Belarus

„Wer Prada liebt, muss Lukaschenko lieben“

Viktor Martinowitsch, 1977 in Belarus geboren, ist Journalist, Historiker und Politologe. Er erlangte einen Doktor in Kunstgeschichte und unterrichtet Geschichte und Politikwissenschaft an der Europäisch-Humanistischen Universität (EHU) in Vilnius. „Paranoia“ ist sein erster Roman. In Russland wurde das Buch vom Moskauer Verlag „ACT“ veröffentlicht.


ostpol: Worum geht es in Ihrem ersten Roman „Paranoia“?

Viktor Martinowitsch: In erster Linie geht es um die Liebe und in zweiter um eine Art Antiutopie. Noch irgendwann im 13. Jahrhundert waren die Dramaturgen überzeugt davon, dass es keine Liebesgeschichte ohne eine bestimmte Menge Blut geben dürfe. In diesem Sinne folge ich den Geboten des Theaterstücks „Rosenkrantz und Güldenstern sind tot“ (Anm. d. Red.: das Stück stammt von Tom Stoppard), die besagen: „Sie können Liebe mit Blut und Blut mit Rhetorik vermischen. Mischen Sie aber niemals Liebe mit Rhetorik.“ Mein Buch „Paranoia“ ist eine Mischung aus Liebe und Blut – im Sinne von Shakespeare.

Der Vertrieb Ihres Buches in Belarus wurde gestoppt. Ist „Paranoia“ als erster Roman in der Geschichte des Landes mit einem Verbot belegt worden?

Martinowitsch: Als ich Ende November 2009 in Tallinn war, bekam ich mehrere Mails von Leuten, die mir berichteten, dass Buchverkäufer in Minsk es ablehnen würden, mein Buch zu verkaufen – mit der Begründung, dass das Buch verboten sei. Bis dahin waren drei Tage lang Auszüge aus dem Roman in der Zeitung „Narodnaja Volja“ erschienen, die das Regime als oppositionell einstuft. Evtl. war diese Vorabveröffentlichung schon Anlass genüg für ein Verbot. Dann haben auch Journalisten von „Narodnaja Volja“ und „Nasha Niva“ versucht, das Buch in Minsker Buchhandlungen zu bekommen. Auch ihnen sagte man, dass „Paranoia“ verboten sei und nicht länger verkauft werde. Der Buchverkauf ging dann im Internet weiter und ich gelangte sogar auf die Bestseller-Listen einiger online-Händler. Ende November stand ich beim größten Online-Verkäufer www.oz.by auf Platz 1. Am dritten Tag an der Spitze wurde das Buch dann plötzlich aus dem Verkauf genommen. Diejenigen, die das Buch bestellt hatten, riefen beim Händler an und erhielten die Information, dass der Versand für das Buch ausgesetzt wurde und das Buch nicht mehr erhältlich sei. Ich habe mich daraufhin an verschiedene Autoritäten gewandt, um eine Erklärung zu erhalten. Ohne Erfolg. Auch ein Gerichtsurteil, mit dem das Verbot durchgesetzt wurde und das ich hätte anfechten können, hat es nicht gegeben. Das ist natürlich Taktik. Denn gegen ein inoffizielles Verbot kann man nicht angehen

Die Diktatur, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, und das Lukaschenko-Regime unterscheiden sich vielfach. Sie nennen nicht ein einziges Mal „Belarus“ oder „Lukaschenko“. Können Sie sich erklären, warum die Autoritäten so massiv dagegen vorgingen?

Martinowitsch: Eine meiner ersten Leserinnen, die den Roman auf ihr Flash-Laufwerk erhalten hatte – tatsächlich habe ich den Roman nicht via Mail verschickt, weil ich Angst hatte, verhaftet zu werden – schrieb mir gleich, dass das Buch mit Sicherheit verboten werden würde. Diese Leserin ist eine bekannte Politologin und Kulturwissenschaftlerin in Belarus; und ich befragte sie lange, wie sie zu dieser Einschätzung komme. Sie gab mir folgende Erklärung: „In dem Roman korrespondieren weder das Porträt Lukaschenkos noch sein Name mit der Wirklichkeit. Was aber korrespondiert ist die Beziehung, das Verhältnis der Bürger zu ihrem Diktator. Das stimmt eins zu eins. Das ist der Grund, warum jeder in Murawjow (Anm. d. Red.: Murawjow ist im Roman der Name des Geheimdienst-Ministers, sprich des Diktators) erkennen wird, den er erkennen soll. Zudem wird jeder in der Stadt, die im Roman skizziert wird, Minsk erkennen, die Hauptstadt des heutigen Belarus.“

Der Diktator in Ihrem Buch geht mit äußerster Gewalt gegen Dissidenten vor. Er lässt sie umbringen. Ihr fiktives Regime agiert wesentlich brutaler als die Diktatur Lukaschenkos. Warum ist die belarussische Diktatur so stabil und erfolgreich?

Martinowitsch: Eben weil die Diktatur eine permanente Paranoia schürt und den Menschen bewusst Angst macht. Das wird auf allen möglichen Ebenen gepflegt wie auch damals in der DDR. Verstehen Sie! Im heutigen Belarus muss keiner umgebracht werden. Denn letzten Endes töten sich alle selbst. Alle haben in sich den Wunsch erstickt, frei äußern zu wollen, was sie denken und was sie in einem freien Geist tun wollen. Der Tod ist nichts, wenn du Gefahr läufst, deinen Arbeitsplatz zu verlieren und damit die Zukunft, die von deinem Einkommen abhängt, nämlich die Zukunft deiner Kinder. Dies macht die Diktatur in Belarus aus – sie ist eine Diktatur von neuer Qualität, eine De facto-Diktatur, in der der Diktator selbst nicht das Zentrum der Macht ist, sondern jeder Bürger, jedes Individuum, das sich selbst verbietet, auf Demonstrationen zu gehen oder ein Interview, einem unabhängigen Medium zu geben. Paranoia kann eine Volkskrankheit sein. Und gleichzeitig – eine nationale Idee.

Wiktor Martynowytsch (Foto: Alina Krushinskaya)

Mit anderen Worten: Wenn du arbeitest und konsumierst, kannst du ein glückliches Leben in Belarus haben.

Martinowitsch: Genau. Das Wichtigste aber ist, dass man sich nicht – wie die Oberen gern sagen – in die Politik einmischt. Es vergeht normalerweise nicht mal eine Woche von dem Moment an, wo man begonnen hat, etwas unerhört Freies zu tun, bis man Probleme bekommt. Dann bekommt man Besuch von der Steuerfahndung, man bekommt Probleme bei der Arbeit und so weiter. Ja, in gewisser Weise ist Belarus die Standard-Konsumgesellschaft. Aber hinsichtlich dessen, was die Menschen brauchen, unterscheidet sich unsere Gesellschaft stark von den westlichen Gesellschaften. Für die Menschen im Westen ist Freiheit eine innere Notwendigkeit, die buchstäblich in jeder Haltung reflektiert wird – meinetwegen auch im Geldverdienen und im Shopping. Unsere Konsumgesellschaft aber selbst fußt auf der persönlichen Unfreiheit. Die Besserverdienenden sind im Allgemeinen die Schichten der Gesellschaft, die auch dem Regime sehr nahe und damit am wenigsten frei sind. Man kann sagen: Wer Prada liebt, muss auch Lukaschenko lieben. Im Westen macht solch ein Vergleich keinen Sinn.

Stellt das Internet eine Gefahr für das Lukaschenko-Regime dar?

Martinowitsch: Nein. Wie überall in der Welt gehen auch 90 Prozent der Belarussen ins Internet, um eine Porno-Seite zu finden oder einen guten Shop, in dem man ein neues Handy bekommt. Das Nachrichtenportal tut.by, das jeden Tag rund 30 Prozent aller Internetuser in Belarus aufsuchen, ist sehr weit entfernt von Politik und Freiheit. In der Tat ist es nur ganz gut, wenn man sich amüsieren will.

Belarus ist kein totalitärer Staat. Die einzige Regel, die es zu geben scheint, ist die, dass man sich nicht in die Politik einmischen soll, wenn man keinen Ärger haben will. Lukaschenko hat zwar eine Staatsideologie, die aus einer Mischung aus Neo-Sowjet-Kitsch und heute auch nationalistischem Kitsch besteht, aber man wird nicht gezwungen, Teil dieser Ideologie zu sein. Richtig?

Martinowitsch: Genau, es gibt keinen wirklichen Zwang. Jedem steht es frei, die staatliche Politik zu unterstützen, indem man an ein starkes, blühendes Belarus glaubt. In gewisser Weise ist der Mangel an Druck von staatlicher Seite, an eine bestimmte Idee glauben zu müssen, ein Grund dafür, warum die Opposition bis heute recht schwach ist. Wenn es einen ideologischen Druck nach sowjetischem Vorbild geben würde, dann gäbe es mit Sicherheit einen stärkeren und strukturierten Widerstand in der Gesellschaft. Wahrscheinlich würde man auch eher auf die Intellektuellen hören. Der heutige Staat aber sieht seine Aufgabe darin, die Menschen so weit wie möglich von der Politik entfernt zu halten und sich als einzige Alternative zu präsentieren. Für die meisten Belarussen erscheint Politik als „dreckige Sache“, durch die man nur Probleme bekommst. Die Menschen sind sich nicht bewusst, dass die Politik direkten Einfluss auf Entscheidungen im Staat nimmt. Was dem Staat sehr recht ist.

Der Staat erlaubt sogar gewisse Nischen der Freiheit, wie etwa in der Literatur oder Musik, wo sich kritische Geister austoben können, solange sie nicht zu einflussreich werden. Das Regime muss Ihr Buch demnach als große Bedrohung empfinden.

Martinowitsch: Mir scheint, dass das Problem des Buches darin liegt, dass es die Wirklichkeit demaskiert und dass es die Wirklichkeit durch die Beziehungen der Menschen untereinander erklärt. Die Gefahr des Buches besteht wohl darin, dass man den Menschen nicht zeigen darf, wie sehr sie sich fürchten. „Paranoia“ ist ein Roman über die Angst. Ich bekomme jeden Tag viele Mails, in denen Leser mir dafür danken, dass ich ihnen vor Augen geführt habe, was für Angsthasen sie sind, und wie dumm es eigentlich ist, Angst zu haben. Auch für mich war der Roman ein Kampf mit meiner Angst. Ein Drittel des Romans habe ich mit meinem Handy geschrieben, weil ich Angst hatte, ihn in meinen Laptop zu tippen, weil er dort leichter hätte entdeckt werden können. Ich habe auch darüber nachgedacht, das Buch unter günstigeren politischen Umständen veröffentlichen zu lassen – womöglich nach einem Wechsel. Dass ich ihn nun unter meinen Namen veröffentlicht habe, ist auch so etwas wie ein Manifest: Leute, habt keine Angst! Es reicht mit der Angst!

Sie unterrichten an der EHU-Universität in Vilnius. Können Sie noch nach Belarus reisen, ohne verhaftet zu werden?

Martinowitsch: Wenn ich verhaftet werden, bekomme ich sicher den Literaturnobelpreis (lacht). Nicht weil mein Buch so gut ist, sondern weil der Preis häufig an diejenigen gegeben wird, die bestimmte Probleme unserer Zeit mit ihrem Werk beschreiben und benennen. Das war immer schon so – bei Pasternak, bei Bunin und auch bei Orham Pamuk. Unser Regime versteht das, glaube ich, ganz gut. Deswegen brauche ich mich vor einer Verhaftung nicht zu fürchten.

Links:
Black Market (estnische Website für Film und Literatur): Kurzbeschreibung "Paranoia" (engl.)
Open Democracy: Buchrezension "Paranoia" (engl.)
Tschastny Korrespondent (Zeit Korrespondent): Interview mit Wiktor Martynowitsch (russ.)


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