Ukraine

Krimtataren bangen um ihre Heimat

Leila Mamutowa versteht die Welt nicht mehr. „Wenn es den Russen so schlecht geht auf der Krim, warum packen sie dann nicht einfach ihre Koffer und gehen dorthin zurück, woher sie gekommen sind? Warum müssen sie uns jetzt mitnehmen?“, fragt die 26-jährige Diplom-Kauffrau aus Simferopol. Leila ist Tatarin – und die russische Annexion der Krim hat in ihr ein altes Trauma geweckt.

Mehrere Jahrhunderte herrschten die Tataren über die Krim, bis 1783 Katharina die Große die Halbinsel im Schwarzen Meer eroberte. Im Mai 1944 bestrafte Stalin die Tataren für ihre angebliche Zusammenarbeit mit den Nazis: Rund 200.000 von ihnen wurden innerhalb von nur zwei Tagen nach Zentralasien deportiert - nach Usbekistan, Tadschikistan oder Sibirien. Die Hälfte kam dabei ums Leben.

Andere wurden auf Boote geladen, die dann im Asowschen Meer versenkt wurden. Tataren in der sowjetischen Armee wurden in Arbeitslager deportiert. Jegliche tatarische Spuren auf der Krim wurden beseitigt, in ihre Häuser zogen umgesiedelte Russen. In der Sowjetzeit galten die Tataren als Verräter und Faschisten. Erst unter Gorbatschow durften sie wieder zurück auf die Krim.


„Ich kann nicht begreifen, dass das alles wieder passiert

Bis vor kurzem hätte Leila schwören können, dass sich das Zusammenleben auf der Halbinsel gut entwickelt. „Gerade junge Russen fühlten sich als Einheimische, unabhängig von der Herkunft“, sagt sie. Sie selbst hat sowohl russische als auch ukrainische Freunde. Einige von ihnen protestieren jetzt gegen Putin, Hand in Hand mit den Tataren. Andere haben den Kontakt zu ihr abgebrochen.

„Ich kann nicht begreifen, dass das alles wieder passiert“, sagt Leila. „So lange haben unsere Großeltern und Eltern angestrebt, auf die Krim zurückzukommen. War alles umsonst?” Leila ist in Usbekistan geboren, wohin ihre Großeltern deportiert worden waren. Seit vierzehn Jahren lebt die Familie wieder auf der Krim. Zu Hause, erzählt sie, habe sie immer gehört, dass sie eines Tages in die Heimat kommen. „Werden wir jetzt wieder vertrieben?“

Die Angst ist spürbar. Am Dienstag wurde ein ermordeter Tatar beerdigt. Er galt seit Anfang März als vermisst, als er bei der ukrainischen Armee anwerben wollte und auf dem Weg von der pro-russischen „Bürgerwehr“ angegriffen wurde. Mittlerweile sind noch mehr Tataren als vermisst gemeldet. Am Mittwoch kündigte die neue Krim-Regierung an, sie wolle einen Teil der Tataren umsiedeln.


Einige bringen die Kinder in Sicherheit, andere wollen auswandern

„Wir haben Angst, dass das, was Stalin versucht hat, nun Putin zu Ende bringen wird“, sagt Leila. Einige ihrer Freunde haben ein Messer unter ihre Kopfkissen gelegt, andere schicken ihre Kinder zu Verwandten ins Hinterland, damit sie in Sicherheit sind. Wieder andere wollen auswandern.

Mustafa Dschemilew war ein Jahr alt, als seine Familie von der Krim deportiert wurde. Der 70-Jährige ist ein in der ehemaligen Sowjetunion bekannter Menschenrechtler und Dissident. Fünfzehn Jahre verbrachte er in sowjetischen Gefängnissen, mit Andrej Sacharow hat er im Gulag gesessen.

Als Tatar setzte er sich zu Sowjetzeiten für sein Volk ein: Er sammelte Unterschriften, organisierte Demonstrationen der Krimtataren in Moskau. Nach der Wende war er jahrzehntelang Vorsitzender von Medchlis, der tatarischen Interessensvertretung der Ukraine. Mittlerweile ist er Abgeordneter der Vaterlands-Partei von Julia Timoschenko.


Die Tataren boykottierten das Referendum

„Sterben ist besser als Deportation“, sagt er leise. „Wenn die Ukraine den Kriegsbefehl gibt, werden wir sie hier verteidigen“. Er selbst sei immer für friedliche Methoden gewesen, aber in dieser Situation sei das anders, sagt Dschemilew. Die Tataren erkennen das Referendum nicht an. „Die Krim ist und bleibt ukrainisch“, wiederholt auch Dschemilew.

Und das, obwohl die politische Vertretung seines Volkes von Kiew nie anerkannt worden ist. Für ihre unter Stalin enteigneten Häuser haben sie nie eine Entschädigung erhalten. Abkaufen durften sie sie, zum Marktpreis. Viele Tataren konnten sich das nicht leisten und leben in prekären Verhältnissen, in sogenannten Samosachwati: illegalen Siedlungen, ohne Strom und Kanalisation, die ständig vom Abriss bedroht sind.

Leila boykottierte das Referendum, wie alle Tataren, sie ging stattdessen zu einer Demonstration. „Heute wäre mir das schon zu gefährlich“, sagt sie. Die pro-russische Bürgerwehr werde immer selbstbewusster, Leila hat Mails mit Drohungen erhalten.

Die Russen versuchen unterdessen, die Tataren für sich zu gewinnen. Mustafa Dschemilew hat als Interessensvertreter der Tataren sogar in der vergangenen Woche mit Putin telefoniert. Der russische Präsident habe ihm sein Wort gegeben, die Tataren keine müssten keine Angst habensagt er, und ihm gegenüber bedauert, dass die „die faschistische Bande aus Kiew die Tataren in diesen Konflikt hineingezogen hat.“

„Wir wissen genau, wie Russland sein Wort hält“, sagt Leila sarkastisch. Dass ihre Landsleute sich verteidigen werden, hält sie für wahrscheinlich. „Für die Ukrainer ist die Krim nur ein Teil ihres Landes. Für uns bedeutet sie alles. Die Krim ist die einzige Heimat, die wir haben.“


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