Rumänien

Profis aus dem Osten

Attila Kis staunt immer wieder über die deutsche Debatte um die sogenannte Armutsmigration aus Bulgarien und Rumänien. „All das hat mit meiner eigenen Erfahrung nichts zu tun“, sagt der 24-jährige Krankenpfleger aus Siebenbürgen. Wegen der schlechten Perspektiven in Rumänien kam er 2011 nach Deutschland. Zunächst arbeitete Kis für 350 Euro pro Monat als Praktikant bei den städtischen Seniorendiensten in Mülheim an der Ruhr. Nach bestandener Prüfung hatte er dort ein halbes Jahr später eine feste Stelle.

Wegen des Pflege- und Ärztenotstands werben deutsche Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen gezielt Personal in Osteuropa an. Über Vermittlungsagenturen bieten sie ihnen Arbeitsverträge an. Einen Deutschkurs und Unterstützung bei Umzug und Formalitäten gibt es oft gratis dazu. Dementsprechend fühlen sich rumänische Ärzte und Pflegekräfte geschätzt und willkommen. „Eine sehr attraktive Aussicht“, fand auch Kis das Angebot aus Deutschland.


Dieser Text ist dem ostpol mag "Osterweiterung. Zehn Jahre in der EU" entnommen. Sie können das Themenheft hier bestellen.


Immer mehr Einwanderer aus den osteuropäischen Staaten gehen nach Deutschland. Jeder sechste Immigrant kommt mittlerweile aus Polen. Und allein über 2.700 Ärzte aus Rumänien arbeiten nach Angaben der Bundesärztekammer in Deutschland, so viele wie aus keinem anderen Herkunftsland. Für die deutsche Wirtschaft ist die Einwanderung ein Gewinn, denn es fehlen IT-Spezialisten, Mediziner und Pfleger. Und weil die Deutschen immer weniger Kinder bekommen, werden künftig noch mehr Facharbeiter aus dem Ausland gebraucht.

„Wir brauchten dringend Arbeitskräfte, egal woher sie kommen“, sagt Attila Kis' Chef Heinz Rinas, Geschäftsführer bei den Seniorendiensten in Mülheim. „Mit den Mitarbeitern aus Rumänien haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Sie haben nicht nur schnell Deutsch gelernt. Sie sind auch eine Bereicherung, weil sie aufgrund ihrer rumänischen Ausbildung über die Kompetenzen verfügen, die wir suchen.“


Nach dem Abschluss direkt in den Westen

Für die osteuropäischen Herkunftsländer wird die Emigration dagegen zum Problem. Denn es sind die besten Köpfe des Ostens, die in den Westen migrieren. Mehr als zwei Millionen Menschen hat allein Polen nach dem EU-Beitritt vor zehn Jahren verloren. Sie sind in den Westen abgewandert und leisten dort wertvolle Arbeit. In Polen fehlt ihre Kraft. Und auch ihr Steuergeld.

Premier Donald Tusk hat schon kurz nach seiner ersten Wahl 2007 ein Rückkehrprogramm aufgelegt, um der Wirtschaft im eigenen Land neuen Schwung zu verleihen. Universitäten versprachen Sonderstipendien mit Namen wie „Homing plus“. Doch alle Bemühungen scheiterten, weil polnische Ärzte und Mechaniker in Deutschland, Österreich oder der Schweiz das Drei- bis Fünffache dessen verdienen, was ihnen die eigenen Arbeitgeber bieten können.

Eklatant ist die Lage im Gesundheitssektor. Polen hat pro Kopf nur halb so viele Ärzte wie Deutschland. Jeder fünfte Mediziner ist bereits im Rentenalter und nur deshalb nicht im Ruhestand, weil der Nachwuchs fehlt. Kontrollen von Notfallzentren haben ergeben, dass jede dritte Praxis hoffnungslos unterbesetzt ist. Stattdessen arbeiten osteuropäische Ärzte mit großem Erfolg in Skandinavien.


Litauen verliert jedes Jahr ein halbes Prozent Wachstum

Die ungarische Regierung zog aus der Entwicklung 2013 die zweifelhafte Konsequenz, Medizinstudenten zu Pflichtjahren in der Heimat zu zwingen. „Wir können nicht alle unsere Ärzte unentgeltlich für Norwegen ausbilden“, ließ Premier Viktor Orban wissen. Der Aufschrei über diese „Einschränkung der Freizügigkeit“ war in Westeuropa laut. Die Karriereperspektiven locken auch immer mehr osteuropäische Abiturienten gleich nach dem Schulabschluss in den Westen. Wozu in der Heimat studieren, wenn sich in Paris, London oder Berlin mit dem Spezialfach zugleich fremde Sprachen erlernen lassen? Die mehr als 1,5 Millionen Polen, die in Deutschland leben, gelten nicht von ungefähr als die am besten integrierte Gruppe von Zuwanderern.

Welch dramatische Auswirkungen der Braindrain hat, zeigt sich keineswegs nur in Polen, dem größten osteuropäischen EU-Land mit 38 Millionen Einwohnern. Aus Litauen sind im Zuge des EU-Beitritts rund 700.000 Menschen abgewandert. Geblieben sind knapp drei Millionen Litauer. Jeder Fünfte ist gegangen. Statistiker haben errechnet, dass die kleine Baltenrepublik als Migrationsfolge jedes Jahr ein halbes Prozent Wachstum verliert.

Auch Attilla Kis möchte in Deutschland bleiben. Im Vergleich zum chaotischen und chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystem in Rumänien findet Attila Kis seine Arbeitsbedingungen in Mülheim nahezu paradiesisch. „Es macht Spaß, hier zu sein.“


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