Tschechien

Das Erbe der Grenze

Am 4. Dezember 1989 war Miroslav Schwarz nicht zum Feiern zumute. Der Zollwachtmeister hatte gerade eine Zwölf-Stunden-Schicht hinter sich, als die Anordnung am Grenzübergang Dolni Dvoriste ankam. Über 40 Jahre lang hatte das kommunistische Regime die Tschechoslowaken hinter einer Grenzanlage mit Stacheldraht, Minenfeldern und bissigen Hunden eingesperrt. Jetzt jubelten und hupten die Menschen. Schwarz nennt diese Leute „Schreihälse“. Am Tag, als der Eiserne Vorhang fiel, sollte er sie einfach nach Österreich durchwinken. Der Zöllner packte seine Sachen und ging nach Hause.


Hier fühlt er sich wohl: Der frühere Zöllner Miroslav Schwarz führt durch die ehemalige Grenzstation in Dolni Dvoriste / Björn Steinz, n-ost


Schwarz rückt sich den Bund seiner forstgrünen Funktionshose unter dem runden Bauch zurecht. In Ledersandalen und blauen Socken schreitet der 68-Jährige seinen ehemaligen Arbeitsplatz ab. „Hier war die Straße überdacht, zwischen den beiden Gebäuden“, erklärt er und nimmt sich den Strohhut vom Kopf.

Sein Grenzposten war einst der modernste in der Tschechoslowakei. Schwarz erzählt vom Gefängnis im Keller, in dem nach der Samtenen Revolution von 1989 die Tschechen landeten, die in Österreich kriminell geworden und dort von der Polizei aufgegriffen worden waren. „Nach der Revolution dachten die Leute, sie könnten tun und lassen, was sie wollen“, sagt Schwarz.


Belagerungszustand im Grenzdorf

Die 809 Kilometer lange Westgrenze der Tschechoslowakei war der tödlichste Abschnitt des Eisernen Vorhangs. Bis 1989 starben dort laut Forschungsergebnissen des Grazer Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung mindestens 1.040 Menschen, davon allein rund 650 Grenzer, von denen viele auch Fluchtversuche unternahmen. Das Regime ging vor allem in den 1950er Jahren erbarmungslos gegen den Exodus aus der Tschechoslowakei vor. Die Menschen im Grenzdorf Dolni Dvoriste waren Augenzeugen.

„Dolni Dvoriste ist symptomatisch für das Problem dieser Grenze“, sagt Philipp Lesiak, der in einem internationalen Forschungsprojekt des Grazer Instituts Akten der Geheimdienste auswertet. Nach der Abriegelung der Grenze lebten die Menschen hier in einer Art Belagerungszustand. Wenige Meter hinter den Häusern verlief der Stacheldraht, ununterbrochen patrouillierten Soldaten und Grenzschützer. Unter den Dorfbewohnern wurde ein dichtes Spitzelnetzwerk aufgebaut. Das Leben am Eisernen Vorhang wirkt laut Lesiak noch heute nach.


Bordelle und Casinos: Für Miroslav Schwarz hat der Fall des Eisernen Vorhangs kaum Positives gebracht / Björn Steinz, n-ost


Fragt man die Bewohner von Dolni Dvoriste aber heute, was ihnen der Fall des Eisernen Vorhangs gebracht hat, hört man wenig Gutes. 25 Jahre später hat die Gemeinde etwa 1.200 Einwohner, zwei Casinos, mehrere Spielhöllen und 13 Bordelle. Die Bürgermeisterin hat eine private Sicherheitsagentur beauftragt, die die Prostituierten vom Marktplatz an die E55 vertrieben hat. Die Bewohner beschweren sich über Lärm, Diebstahl, Drogen. „Früher konnte man die Haustür offen stehen lassen. Keiner hätte sich erlaubt, etwas zu klauen“, sagt Schwarz. Heute sei das anders. Sein Hund habe einmal einem Dieb die Hosen zerfetzt.


Kronen und Zahnprothesen im früheren Zollhaus

Im ehemaligen Zollhaus hingegen fühlt sich Schwarz wohl. Er ist froh, dass es nicht verwahrlost. Im ersten Stock, wo sich die Zöllner wöchentlich zu Besprechungen trafen, riecht es heute nach Desinfektionsmittel. Menschen in weißen Kitteln laufen durch den Gang, Bohrer und Schleifmaschinen sind zu hören. Kronen und Kieferprothesen werden hier gefertigt. Nachdem das Zollhaus geschlossen wurde, siedelte Zahnarzt Vaclav Bruna dort eine Klinik für österreichische Patienten an.

„Ich bin stolz, den bolschewistischen Geist aus diesem Haus verjagt zu haben“, sagt Bruna. Er floh 1988 aus der Tschechoslowakei, über Jugoslawien nach Österreich. Zuvor war er 16 Monate für die Weiterverbreitung der Charta 77, der Petition der gleichnamigen Bürgerrechtsbewegung gegen das kommunistische Regime, inhaftiert gewesen.

Die Grenzer hingegen blicken eher mit Verklärung zurück. Der studierte Ökonom Schwarz heuerte 1976 beim Zoll an – nicht nur weil das eine sichere und angesehene Arbeit war, sondern auch wegen seiner Liebe zu Hunden. Beim Rundgang durch die ehemaligen Zollgebäude bleibt er vor einem Gitter stehen und presst seinen Kopf zwischen die Metallstangen. „Das war die Koje von Kondor. Acht Jahre hat er mit mir gedient, schwarzer Labrador, ein guter Spürhund“, sagt Schwarz. Hinter dem Gitter liegt noch Stroh. Schwarz war für die Ausbildung von Spür- und Grenzhunden in Südböhmen zuständig.


„Vorsicht Staatsgrenze“: Fluchtversuche über die Westgrenze der Tschechoslowakei haben mehr als 1000 Menschen das Leben gekostet / Björn Steinz, n-ost


Ein Hundekopf mit ausgestreckter Zunge ist auch das Wappen der Grenzer und schmückt die Chronik der Kompanie – darunter die Parole: „Sie kommen nicht durch“. Schwarz-Weiß-Kopien von Gruppenfotos in Uniform, Bleistiftzeichnungen von Männern, die verwegen von Wachtürmen blicken: Im Jahrbuch von Schwarz’ ehemaligem Kollegen Pavel Pansky wirkt der Dienst an der Grenze wie ein endloses Ferienlager. Pansky diente 25 Jahre bei der Grenzwache, zuletzt bei Dolni Dvoriste. Pansky setzte die Hunde, die Schwarz abgerichtet hatte, für die Jagd auf „Grenzverletzer“ ein.


Sonderurlaub als Belohnung für verhinderte Fluchten

„Grenzverletzer“, das ist sozialistischer Jargon für erfolglose Flüchtlinge. Pansky sagt, er habe etwa 50 im Jahr geschnappt. Er hat eine Glatze, sein grauer Oberlippenbart läuft neben den Mundwinkeln spitz zu. Pansky lacht viel. „Es geht mir heute besser als damals“, sagt der Rentner, aller Nostalgie zum Trotz. Als Grenzer sei er nonstop im Einsatz gewesen. Die Hunde machten die „Grenzverletzer“ mit Bissen unschädlich, nach dem Verhör übergab man sie der Staatssicherheit.

„Die Arbeit der Grenzbeamten war psychisch sehr belastend“, sagt Historiker Lesiak. Er spricht von perfiden Belohnungssystemen, für verhinderte Fluchten gab es Sonderurlaub. Das habe zu Morden an Kollegen und zu Selbstmorden geführt. Grenzer wurden bei eigenen Fluchtversuchen erschossen oder von Minen zerfetzt.

Weder Schwarz noch Pansky wollen sich an solche Fälle erinnern. Wenn man sie fragt, wie sie die Arbeit heute bewerten, fällt bei beiden schnell das Wort Stolz. „An der Grenze durfte nicht jeder dienen“, sagt Schwarz, der heute für eine private Sicherheitsfirma arbeitet. Für ihn brachte der Fall des Eisernen Vorhangs – bis auf Reisefreiheit – kaum Positives. Er regt sich über Müll in den Straßen und die vielen Bordelle auf. Eines steht direkt gegenüber seines einstigen Postens, im früheren Hauptquartier der Grenzwächter.


Zahnarzt Vaclav Bruna hat den bolschewistischen Geist verjagt: Das ehemalige Zollhaus dient nun als Zahnklinik / Björn Steinz, n-ost


Wo früher die Wechselstube war, lehnt Zahnarzt Bruna sich im weißen Hemd in seinen Bürosessel und schlürft Espresso. Auf seinem Schreibtisch liegt ein Auktionskatalog von Sotheby’s. Er hat das verlassene Gebäude für ein findiges Geschäftsmodell genutzt. 50 österreichische Kassenkunden lassen sich hier täglich behandeln, für Zusatzleistungen zahlen sie tschechische Preise. Bei einer einfachen Zahnkrone sparen sie etwa 200 Euro.

Das Zollhaus von Dolni Dvoriste ist kein Einzelfall. Tschechien hat bereits alle Immobilien an seinen Grenzübergängen verkauft – heute beherbergen sie Touristeninformationen, Wellnesszentren, Hotels oder Hundepensionen. Österreich möchte die letzten Immobilien bis Ende des Jahres zu Geld machen. Am Grenzübergang Wullowitz, direkt gegenüber von Dolni Dvoriste, soll ein Logistikunternehmen angesiedelt werden.


Casinos statt historische Aufarbeitung

Die Aufarbeitung der Grenzgeschichte ist auf österreichischer Seite im Jubiläumsjahr ein großes Thema. An der Grenzlandbühne in Leopoldschlag gastierte im Juni das Theaterfestival „25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs“, die Gemeinde zeigte eine Ausstellung zum Thema.

Auf der tschechischen Seite hat sich Zahnarzt Bruna für ein Museum des Eisernen Vorhangs in einem der Zollgebäude stark gemacht. „Man kann nicht genug an die Gräueltaten des kommunistischen Regimes erinnern.“ Die Gemeindeverwaltung von Dolni Dvoriste aber hat kein Interesse, zum 25. Jubiläum der Grenzöffnung sind keine Feierlichkeiten geplant. Ein Museum wird es nicht geben, man hat eine lukrativere Nutzung für das Gebäude gefunden als ein Museum: Es dient als Unterkunft für die Angestellten des Casinos „American Chance“.


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