Deutschland

Wieder Tourismus auf der Oder

Man denkt erst, da kommt niemand. Freitag, viertel vor zehn in Frankfurt an der Oder. In 15 Minuten soll das Schiff nach Kostrzyn (Küstrin) ablegen, 30 Kilometer flussabwärts am polnischen Ufer. Niemand wartet, die Sonne schimmert im Wasser, das Schwemmland drüben versinkt im gleißenden Licht, die polnische Zwillingsstadt Slubice dahinter scheint weit weg. Wo soll hier ein Schiff aufkreuzen? Die Anlegestelle war seit Jahren verwaist. Doch seit April gilt ein Fahrplan für ein neues Passagierschiff namens „Zefir“ – „Lüftchen“ auf Deutsch.


Die Oder war ein Fall für den Grenzschutz, nicht für den Tourismus

„Lüftchen“ ist eine Revolution: Abgesehen von einer Fähre im Oderbruch verkehrt zum ersten Mal, seit die Oder zur Grenze wurde, ein touristisches Fahrgastschiff zwischen dem polnischen und dem deutschen Ufer. Jahrzehntelang war der Fluss eine geopolitische Linie des Kalten Krieges, die Bundesrepublik erkannte ihn bis 1990 nicht als Grenze zu Polen an. Die Oder war ein Fall für den Grenzschutz, nicht für Tourismus.


Die „Zefir“ bietet einstündige Rundfahrten nach Fahrplan und Charterausflüge auf Bestellung an. 6,50 Euro oder 25 Zloty zahlt man für die dreistündige Fahrt in die alte Festungsstadt Kostrzyn. Infos unter http://www.oder2014.de.


Jetzt, da die Schengengrenze nach Osten gewandert ist, kann die Oder wieder ein normaler Fluss sein. Ein Ort für eine Sommerfrische, wie vor dem Zweiten Weltkrieg, als Berliner Ausflügler in Scharen kamen, um nach Stettin, jetzt Szczecin, zu reisen. Oder, wie Wadim Tyszkiewicz, Bürgermeister der Stadt Nowa Sol (Neusalz) und vor zehn Jahren Initiator dieser Revolution, der Zeitschrift „Polityka“ erklärte: Aus einem „Quell des Unglücks“ wird ein „Quell des Glücks“. Vorausgesetzt, es hat sich niemand im Fahrplan geirrt, denn es ist bereits kurz vor zehn und noch immer kein Schiff in Sicht.

Ein Dutzend Fahrgäste hat sich nun eingefunden am Kai und reckt unruhig die Hälse flussauf- und abwärts. Da schiebt sich mit einem motorischen Summen die „Zefir“ aus der Slubicer Hafenbucht hervor. Fotoapparate werden gezückt.


Die Oder war einst eine wichtige Wasserstraße

Zwei Decks hat das Schiff, Platz für 90 Personen und Kajüten für eine vierköpfige Mannschaft: zwei Kapitäne, zwei Barfrauen. Der Kahn lässt Frankfurt und Slubice hinter sich, die in der Ferne zu einer normalen Stadt mit Fluss verschwimmen. Rechts und links beginnt die Wildnis: Wald, Deiche, Flussauen, Graureiher, Möwen. Gelegentlich sitzt ein Angler auf den in den Fluss hineinragenden Buhnen, den launischen Strom in seinem unsteten, sandigen Flussbett halten sollen.

Wenn Kapitän Leon Cynk sein vollgeschriebenes Fahrtenbuch aufschlägt, das vierzig Jahre Binnenschifferleben enthält, bekommt man eine Ahnung davon, wie wichtig die Oder als Wasserstraße einmal war. Tausende Tonnen Kohle und Erz wurden zwischen dem oberschlesischen Kohlerevier und Westeuropa verschifft. Mit der Privatisierung der polnischen Wasserwirtschaft ist die Binnenschifffahrt auf der Oder nahezu zum Erliegen gekommen. „Früher hat der Staat die Fahrrinne sauber gehalten, nun macht keiner mehr den Schlick weg“, sagt Cynk. Wegen der schwankenden Wasserstände ist die Oder kaum schiffbar.


So selten wie die Geburt von Fünflingen

Dass Cynk auf seine alten Tage doch wieder Arbeit hat, verdankt er der revolutionären Tatsache, dass man das Schiff dem Fluss angepasst hat – und nicht umgekehrt. Die „Zefir“ ist eins von zwei eigens für die spezifischen Bedingungen der Oder gebauten Passagierschiffen. Tiefgang 70 Zentimeter. So kann sie auch bei Niedrigwasser auslaufen. Das Schwesterschiff „Laguna“ verkehrt im Süden bis nach Glogow (Glogau), die „Zefir“ im Norden bis Kostrzyn. Insgesamt 220 Kilometer. Zwei neue Schiffe liefen für Flusskreuzfahrten vom Stapel – das ist in Mitteleuropa ungefähr so selten wie die Geburt von Fünflingen.

Auf dem Mast wehen die Flaggen der Europäischen Union, die sechs Millionen Euro für den Bau der Schiffe gegeben hat, und der Stadt Nowa Sol. Bürgermeister und Projektinitiator Tyszkiewicz baute dort einen Hafen, bevor es die Schiffe gab. Und er schaffte es, zwei deutsche Partner für das Bauprojekt zu gewinnen. Ein Investor hat sich jedoch bis jetzt nicht gefunden und so betreibt die Schiffe ein Verein, zu dem sechs polnische Odergemeinden, nicht aber Frankfurt und Eisenhüttenstadt gehören. Wäre es nach rechnenden Geschäftsmännern gegangen, hätte es dieses „Lüftchen“ auf der Oder nie gegeben.

Die ersten Sommerfrischler aus Berlin haben schon Wind bekommen. Die zwei Herren, die einen Kaffee an der Bordbar schlürfen, machten gern Ausflüge ins polnische Hinterland der Hauptstadt, sagen sie.
Draußen wird es nun aufregend. Die gewaltigen Mauern der Kostrzyner Festungsruine sind zu sehen. Die Passagiere haben sich ans Oberdeck begeben. Am Bug neben dem Masten lotst Leon Cynk den zweiten Kapitän per Funkgerät unter den beiden Brücken durch, bevor das Schiff in die Warthe einbiegt, die hier in die Oder mündet. Gegen den Strom fährt die „Zefir“ die letzten Meter in ihren Heimathafen ein. Die Fotoapparate klicken wieder.


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