Ungarn

Sekundenentscheidung an der Grenze

 „Mehr als 30 Jahre war ich im Staatsdienst, jetzt bin ich ein glücklicher Pensionär“, sagt Arpad Bella und lacht. Seine Gesichtszüge strahlen die Ruhe und Zufriedenheit eines Mannes aus, der seine Pflicht erfüllt hat. Die Fenster seines Hauses sind laubverhangen, im Garten wächst eine Eiche. Bella liebt die Natur: „Als ich klein war, wollte ich Botaniker oder Biologe werden“, erinnert sich der 68-Jährige. An sonnigen Sommertagen wie diesem geht er gerne spazieren.

Csapod, Arpad Bellas Geburtsort unweit der österreichisch-ungarischen Grenze, hat heute rund 500 Einwohner. Viele davon sind Westeuropäer, die nach der Wende die alten Bauernhäuser als Feriendomizile gekauft haben. Die Lage ist günstig, die Fahrt nach Wien dauert eine knappe Stunde, die Weingebiete um Sopron und im Burgenland sowie die Nationalparks Fertö-Hansag und Neusiedler See sind nicht weit. Nach seiner Pensionierung zog Bella wieder hierher, um die Ruhe zu genießen.

Karriere hat Bella woanders gemacht. Als er drei Jahre alt war, zog seine Familie nach Sopron. Die Stadt rund 30 Kilometer nordwestlich von Csapod ist bis heute einer der wichtigsten Grenzübergänge nach Österreich. Hier diente Bella 28 Jahre als Grenzsoldat, und hier geschah am 19. August 1989 das, was viele als „ersten Riss im Eisernen Vorhang“ und als „Anfang vom Ende der DDR“ bezeichnen: Hunderte von DDR-Bürgern stürmten an diesem Tag das Grenztor. Bella war damals der leitende Offizier am Übergang – er war es, der die „Grenzverletzer“ gewähren ließ und ihnen die Flucht über Österreich in die Bundesrepublik ermöglichte.


Sopron war immer ein Drehkreuz zwischen Ost und West

Zum Grenzschutz war Bella in den 1960er Jahren gekommen. Nach dem Abitur hatte ihm ein Freund eine Karriere dort nahegelegt. Die bedeute zwar viel Verantwortung und militärische Disziplin, aber es gebe auch Vorteile: die Ehre, das Vaterland zu verteidigen, die Möglichkeit, direkt in Sopron zu arbeiten, und nicht zuletzt ein vergleichsweise gutes Gehalt. Das überzeugte Bella. Nach der Ausbildung übernahm er eine Stelle am nahegelegenen Grenzübergang, kontrollierte jahrelang die Pässe. Es gab immer viel zu tun: Sopron war ein Drehkreuz zwischen Ost und West, und Ungarn war nie ein abgeschottetes Land wie etwa Rumänien unter Ceausescu.

Gut 20 Jahre vergingen, und Bella stieg in der Hierarchie auf. Das Regime des seit dem Volksaufstand von 1956 herrschenden Generalsekretärs Janos Kadar veränderte in dieser Zeit seinen Charakter: Auf Reformen folgten ab den 1960ern wirtschaftliche Freiheiten und eine abgemilderte Form des Staatskommunismus. Im Mai 1988 trat Kadar zurück, die kleine bürgerliche Oppositionsbewegung machte in Budapest mobil, aber eine vollständige Wende lag für die meisten Ungarn nach wie vor im Bereich des Unvorstellbaren. „Bis 1989 habe ich nicht im Ansatz daran geglaubt, dass sich etwas ändern könnte“, erzählt Bella heute. „Der Staatssozialismus war da – für immer und ewig.“

Doch im Mai 1989 begann die Volksrepublik damit, die hochgerüsteten Anlagen an der Grenze zu Österreich abzubauen. Bereits seit Anfang 1988 durften ungarische Bürgern ins nichtsozialistische Ausland reisen. Als am 27. Juni 1989 der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Kollege Alois Mock an die Grenze kamen, um symbolisch ein Stück Zaun zu durchschneiden, war von diesem schon längst nicht mehr viel übrig. Doch das Bild ging um die Welt und erreichte über das Westfernsehen auch viele DDR-Bürger.

Das „Paneuropäische Picknick“ war geplant als friedliche Begegnung

Einige Wochen später erfuhr Arpad Bella, dass an seinem Posten eine weitere öffentlichkeitswirksame Veranstaltung stattfinden sollte: Unter dem pompösen Titel „Paneuropäisches Picknick“ luden zivilgesellschaftliche Gruppen nach Sopron ein, als Schirmherren hatten sie den ungarischen Staatsminister Imre Pozsgay und den österreichischen Europa-Politiker Otto von Habsburg gewonnen.

Angekündigt war das „Picknick“ als friedliche Begegnung für Bürger aus Ost und West. Zudem sollte das Grenztor symbolisch für drei Stunden geöffnet werden. Während die Organisatoren mit nur wenigen tausend Teilnehmern rechneten, erschienen am 19. August 1989 mindestens 10.000 Menschen an der Grenze, einige Schätzungen gehen sogar von 20.000 aus. Die meisten von ihnen waren Ungarn aus dem Umland und Österreicher. Sie versammelten sich auf den Wiesen, aßen, tranken und sangen zusammen.

Gegen zwölf Uhr geschah dann das völlig Unerwartete: Rund zwei Dutzend DDR-Bürger, die offiziell Urlaub in Ungarn machten, standen plötzlich vor Bellas Männern. Seit Jahresbeginn waren Hunderttausende aus der DDR nach Ungarn gekommen, die sich eine Ausreisemöglichkeit erhofften. Doch Bella erinnert sich: „Die Befehle waren eindeutig: Staatsbürger aus anderen Ostblockländern ohne österreichisches Visum durften wir nicht herauslassen. Als die Ostdeutschen ans Tor drängten, musste ich innerhalb von Sekunden entscheiden, ob ich sie mit Gewalt aufhalte.“

„Ich hatte keine Zeit, alles zu durchdenken“

Dann ging alles blitzschnell. Die DDR-Bürger rissen das Grenztor auf und gelangten auf österreichischen Boden. „Ich hatte furchtbare Angst“, gesteht Bella heute. „Es war mir klar, dass wir die Grenzverletzer nicht stoppen können, ohne zu schießen.“ Der Grenzoffizier beschloss binnen Sekunden, nichts zu tun. „Ich glaubte definitiv nicht an den Kommunismus, aber ich war auch kein Held. Ich wollte nur ein Blutvergießen vermeiden. Und hatte keine Zeit, alles zu durchdenken.“

Gedankenverloren erzählt Bella, wie ihm an diesem Tag immer wieder durch den Kopf ging, dass er bald vor dem Militärgericht sitzen würde, dass ihm eine lange Haftstrafe drohte. Zugleich musste er als Leiter des Grenzübergangs zusehen, dass die Veranstaltung weiterhin friedlich verlief – auch wenn er mit seinen fünf Mann eine Eskalation unmöglich hätte verhindern können. Doch die Menschen blieben friedlich.

Einige Stunden nach dem ersten Ansturm der DDR-Bürger wiederholte sich die Szene. Hunderte erschienen an der Grenze und rissen das Tor wieder auf. Die meisten hatten von dem Picknick und der geplanten kurzen Grenzöffnung gehört, wussten aber nichts vom ersten Durchbruch. Auch diesmal kam es nicht zu Tumulten, niemand wurde verletzt.


Das Disziplinarverfahren verlief nach der Wende im Sande

In seinem Häuschen in Csapod nimmt Arpad Bella seine alte Uniform aus dem Schrank. Seit 17 Jahren hat er sie nicht mehr getragen. Er schaut sie lange an, dann entspannen sich seine Mundwinkel. Er musste sich nie vor dem Militärgericht verantworten. Das gegen ihn eingeleitete Verfahren verlief im Sande. Die Kommandantur in Budapest zögerte einige Monate, dann kam Ende Oktober die Wende in Ungarn. Und als am 9. November die Berliner Mauer fiel, war jedem klar, dass alles vorbei war.

Wie die meisten Ungarn, so erzählt Bella, war es auch für ihn ein unglaubliches Glücksgefühl, dass das Unmögliche doch noch geschehen war. Bella blieb noch knapp acht Jahre im Dienst und leitete den Grenzübergang in einer Zeit, in der der Verkehr immer intensiver wurde. Er erlebte erneut Flüchtlinge, die in den Westen wollten, diesmal aus dem kriegsgeplagten Jugoslawien. Allmählich wurde ihm das Ganze aber zu anstrengend. 1997 entschied er, in Rente zu gehen und sich in seinen Garten zurückzuziehen.

Heute gibt es am Ort des damaligen Grenzübergangs keine Kontrollen mehr. Ein einfaches Schild mit den EU-Sternen informiert, wo man die Republik Österreich erreicht. Auf ungarischer Seite erinnert ein Denkmal an die damaligen Ereignisse, ein kleines Museum erzählt die Geschichte des Ortes in der Zeit, als hier der Eiserne Vorhang verlief. Arpad Bella ist kein sentimentaler Mann, doch wenn er in Sopron ist, unterhält er sich gerne mit den Museumsmitarbeitern, trinkt mit ihnen ein Glas Pflaumenschnaps. Hinüber nach Österreich kann Arpad Bella fahren, wann immer er will. Er ist ein glücklicher Rentner.


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