Ukraine

Slowjansk fahndet nach seinen Separatisten

Zehn Tage und zehn Nächte hat Wadim Suchonos in einem kalten, dunklen Verlies zugebracht, im Keller des Geheimdienstgebäudes an der Karl-Marx-Straße in Slowjansk. Es ist ein unscheinbarer Ziegelbau, doch während der knapp dreimonatigen Ära der „Donezker Volksrepublik“ in der Stadt war es hier der am meisten gefürchtete Ort.

Suchonos’ Hände waren am Rücken gefesselt, seine Augen verbunden. Der Stadtrat wurde von Menschen geschlagen, die er nicht kannte, und unterhielt sich mit Mitgefangenen, deren Schicksal ihm so rätselhaft erschien wie sein eigenes. Neben ihm im Keller saßen der prominente US-Journalist Simon Ostrovsky, aber auch einheimische Berichterstatter und proukrainische Aktivisten.


Viele Slowjansker vertrauten den Versprechen der Separatisten

Die Gefangenschaft des 44-Jährigen fiel in die Anfangstage der Donezker Volksrepublik. Er sei wegen seiner proukrainischen Ansichten festgehalten worden, sagt er. „Sie haben in mir einfach einen Feind gesehen.“ Dabei ist Suchonos ein ehemaliges Mitglied der Partei der Regionen des früheren Präsidenten Viktor Janukowitsch. Das Umfeld des geflüchteten Janukowitsch wird verantwortlich dafür gemacht, den Aufstand im Donbass in Zusammenarbeit mit russischen Geheimdienstkreisen orchestriert und finanziert zu haben. In den Versprechen der Bewaffneten fanden sich viele ostukrainische Bürger wieder, auch viele in Slowjansk.

In Slowjansk errichteten die Separatisten vom 12. April bis zum 5. Juli ein eigenes kleines Reich, das auf antifaschistischer Paranoia, großrussischer Propaganda und Kriminalität fußte. Slowjansk, die freundliche 120.000-Einwohner-Stadt zwischen Hügeln, bekannt für ihre salzigen Heilquellen, wurde zur Hochburg der Hardliner um den russischen Ex-Geheimdienstler und Militär Igor Strelkow. Am 12. April besetzten professionell ausgestattete Kämpfer das Geheimdienstgebäude und die Polizeistation. Sie errichteten Straßensperren, viele kampferprobte Kaukasier und Kosaken bevölkerten fortan die Stadt. Die Bewaffneten konfiszierten Autos, setzten Geschäftsleute unter Druck und führten eine Ausgangssperre ein.

Die Hälfte der Bewohner floh. Als die ukrainische Armee nach wochenlangem Beschuss zum Sturm ansetzte, verließen die Bewaffneten die Stadt fluchtartig Richtung Süden. Am frühen Morgen des 5. Juli war kein einziger Kämpfer mehr da. Die Straßensperren waren verwaist, die besetzten Gebäude leer. Ein paar Stunden später marschierten die Ukrainer ein.


Die Entführer anzeigen? Dafür gibt es zu viel zu tun

Heute steht Suchonos, schwarze Hose, bordeauxfarbenes Hemd, am Eingang zur Stadtverwaltung, einst ebenfalls von den Kämpfern verbarrikadiert. Der Lokalpolitiker hat auf einer Tafel seinen Namen eingetragen, um sich den Fragen des Volkes zu seiner Vergangenheit zu stellen. Bis jetzt steht er als einziger von 40 Abgeordneten auf der langen Liste. Jeden Sonntagnachmittag gibt es nun auf dem zentralen Platz von Slowjansk eine öffentliche Versammlung, auf der Bürger aktuelle Fragen besprechen.

Seinen illegalen Arrest im Frühling zur Anzeige zu bringen, daran hat Suchonos noch gar nicht gedacht. Das sei doch nur eine „Kleinigkeit“ gewesen im Vergleich zu dem, was anderen passiert sei, sagt er. Und außerdem gibt es jetzt so viel zu tun, Häuser müssen wiederaufgebaut, Strom- und Gasleitungen in Stand gesetzt werden. Der Herbst kommt bald.

Vor dem klobigen Gebäude wehen nicht weniger als 15 ukrainische Fahnen, der eiserne Lenin trägt eine Flagge als Schal um den Hals, die Bänke sind in den Nationalfarben gestrichen. Nichts soll an die schwarz-blau-rote Ära der Separatisten erinnern. Eine Passantin wagt eine leise Beschwerde: Wie konnte die Armee nur auf die eigenen Bürger schießen? Doch als überzeugter Anhänger der Separatisten will sich niemand mehr zu erkennen geben. Auf großen Plakaten wird der Armee für die „Befreiung“ gedankt. Slowjansk liegt wieder sicher in der Ukraine, die Front der von Kiew geführten Militäroperation verläuft 100 Kilometer weiter südlich vor den Toren von Donezk.


Viele Polizisten liefen zur „Donezker Volksrepublik“ über

Die neue Ära beschert Igor Rybaltschenko viel Arbeit. Der Mann im beigen Anzug sitzt in einem frisch gestrichenen Büro, vor sich einen Aktenberg. Er ist seit der Einnahme der Stadt durch die Armee der Polizeichef von Slowjansk. Als er vor fünf Wochen sein Amt antrat, waren noch 36 Polizisten im Dienst. 36 von ursprünglich 400. Heute sind es 240. Die Beamten von früher machen wieder Dienst. Seine Mitarbeiter würden nun überprüft, was ihr Verhalten während der „Okkupation“ angeht, auf die Ergebnisse warte man noch, sagt Rybaltschenko.

Die Rolle der Sicherheitskräfte während der Machtergreifung der Separatisten ist umstritten. An vielen Orten der Ostukraine hat die Polizei nicht nur kampflos das Feld geräumt, sondern die Befehle der neuen Herren ausgeführt. Einige wechselten gar in die Reihen der Kämpfer. Die ukrainische Polizei hat ohnehin den Ruf, korrupt zu sein – durch das vielerorts opportunistische Verhalten hat ihre Glaubwürdigkeit weiter gelitten.

Dass die Polizei in Slowjansk allzu bereitwillig aufgegeben hat, will Rybaltschenko nicht gelten lassen. „Die Beamten waren auf diesen Einsatz nicht vorbereitet“, sagt er. Zu seinem Leidwesen weiß Rybaltschenko genau, wovon er spricht. Der gebürtige Slowjansker war Polizeichef in Simferopol auf der Krim, als russische Truppen die Halbinsel besetzten.


Erst acht Separatisten sitzen im Arrest, 25 werden gesucht

Für die Aufarbeitung der Verbrechen der Separatisten ist harte Ermittlungsarbeit nötig. In einem Massengrab hat man 14 Leichen gefunden, erst drei wurden identifiziert. Auch auf Friedhöfen wurden zahlreiche Menschen irregulär bestattet. Noch ist nicht klar, ob es sich um Kämpfer, Opfer von Verbrechen oder Granaten oder einfach um friedlich Verstorbene handelt. Totenscheine gibt es nicht. Dutzende Menschen sind aus Slowjansk verschwunden. Wurden sie verschleppt? Sind sie vor der Armee geflohen? Fragen über Fragen für Igor Rybaltschenko. Erst acht Separatisten sitzen im Arrest, 25 Bürger würden wegen separatistischer Umtriebe gesucht.

„Das ist alles erst der Beginn“, sagt Rybaltschenko. Seine Ermittler klappern die früheren Straßensperren der Separatisten ab und befragen Bürger, was sie gesehen haben. Bisher hat man noch keine tausend mutmaßliche Unterstützer der Donezker Volksrepublik gefunden, und das in einer Stadt mit 120.000 Einwohnern. „Eine kleine Gruppe hat den Kämpfern geholfen, die anderen haben sich gefürchtet“, so lautet die Version des Polizeichefs. Es könnte aber noch einen anderen Grund für das sonderbaren Verschwinden des Separatismus in Slowjansk geben. „Viele haben Angst, Informationen zu teilen“, sagt Rybaltschenko. „Sie fürchten, dass die Bewaffneten zurückkommen.“


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