Ukraine

Schokolade für den Feind

Die rote Digitalanzeige klettert nach oben: 236, 238, 240 Stück pro Minute. Bei hallendem Fabrik-Lärm packen schweigende Frauen mit Hauben, Handschuhen und roten Overalls die Schokoladetafeln in längliche Kartons. Die Aufschrift „Russland – die noble Seele“ schmückt in weiß-goldenen Lettern auf karminrotem Hintergrund die Verpackung.

Es sind vor allem die „extra schokoladigen Bläschen“, die die Russen so lieben, sagt Anatoli, Mitarbeiter der Fabrik. Auf rund 60 Metern wird die weiße Schoko-Masse gegossen, geschüttelt, gepresst und mit Milchschokolade eingefasst. „So eine Maschine gibt es in Russland nicht“, sagt Anatoli stolz. So kommt es, dass ausgerechnet hier, im westukrainischen Lwiw (Lemberg), tonnenweise Schokolade für den russischen Markt produziert wird.


Russland verbietet Schokoladenimporte aus der Ukraine

Die Schokoladenfabrik Switotsch gehört zum globalen Branchenriesen Nestlé und gilt somit als multinationales Unternehmen. Über die beiden ukrainischen Konkurrenten Konti und AVK verhängte Russland vergangene Woche einen Importstopp. Die Produkte von Roshen, dem Süßwarenkonzern des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dürfen bereits seit Juli 2013 nicht mehr nach Russland exportiert werden. Offizielle Begründung für diese Importverbote: Die Firmen hätten gegen Verbraucherschutzgesetze verstoßen. Auch Nestlé Ukraine ist laut eigener Angabe von den neuen Restriktionen betroffen; die Details sind noch unklar.

Vorerst ist davon in der Schokoladenfabrik allerdings nichts zu spüren. „Wir arbeiten wie immer“, sagt Mariana Girniak, Produktionsmanagerin bei Switotsch. 1000 Mitarbeiter sind in der Fabrik beschäftigt, die Maschinen laufen auf Hochtouren. Spurlos geht die Krise aber auch hier nicht vorüber: Die ukrainische Währung Hrywnja wurde seit Jahresbeginn um fast 40 Prozent abgewertet – Importe wie Kakao oder Kaffee hat das natürlich ungemein verteuert und die Margen verringert. Nestlé Ukraine hat aber aus der Krise 2008 gelernt, die die Ukraine ebenfalls sehr schwer getroffen hat: Wurden damals rund 60 Prozent der Rohstoffe importiert, sind es heute nur noch 35 Prozent – Tendenz sinkend.


Die Hrywnja ist massiv eingebrochen

Die schwache Hrywnja ist es auch, die derzeit Wladimir Skomorochow schlaflose Nächte bereitet. Fast 500 Kilometer weiter östlich, in der Hauptstadt Kiew, schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen. Gerade hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Ansprache gehalten und erstmals von einer russischen „Invasion“ im Osten des Landes gesprochen. „Ich bin selbst ethnischer Russe, die Hälfte meiner Bekannten und Freunde sind Russen. Das ist alles so unfassbar“, sagt Skomorochow. Und nebenbei schwimmen ihm als Präsident der Versicherungsgruppe Lemma Vite die Geschäfte davon: Der Versicherungsmarkt ist schon um 30 Prozent eingebrochen – bis Jahresende werden es wohl 50 Prozent sein, befürchtet er. „Wie kann ich meinen Klienten erklären, dass das Kapital, das sie vor zehn Jahren eingezahlt haben, nichts mehr wert ist?“ Lemma Vite ist nach eigenen Angaben Marktführer bei privaten Pensionsversicherungen und führend bei Lebensversicherungen.

Skomorochows Büro ist nur einen Steinwurf von der Prachtstraße Chreschtschatik entfernt, wo bis vor kurzem noch Maidan-Zelte standen und Europa-Flaggen im Wind wehten. Inzwischen hat der Krieg im Osten des Landes Skomorochow das Geschäft verhagelt. Die Finanzwirtschaft ist nach dem Einbruch der Währung am Boden, und auch mit Russland gibt es praktisch keine Geschäfte mehr, sagt Skomorochow: 50 Millionen Dollar Umsatz hat die Versicherung zuletzt mit Russland gemacht – dieses Jahr bleibt davon ein Zehntel, im besten Fall.


Zerstörte Fabriken in der Ostukraine

Noch dramatischer ist die Lage freilich in den Kriegsgebieten. Julia will nicht mit vollem Namen genannt werden, denn bei Metinvest, dem Unternehmen des reichsten ukrainischen Oligarchen Rinat Achmetow, herrscht eine strenge Kommunikationspolitik. Metinvest ist der größte Stahlproduzent in der Ukraine und vor allem in der Region Donezk aktiv. Drei Fabriken wurden zuletzt bei Kampfhandlungen zerstört und stillgelegt. „Das stellt uns vor große Probleme, weil unsere internen Produktionsketten zwischen den Fabriken unterbrochen sind“, sagt Julia. Zudem sind die Transportwege – allen voran Eisenbahnschienen – zerstört. Besonders schmerzhaft ist der Ausfall der Fabrik in Awdijiwka, die wichtigste Kokerei in der Ukraine. Bei einzelnen Substanzen wie Steinkohlenteer gäbe es schon große Engpässe, sagt Julia. Ein Großteil des Metinvest-Personals wurde bereits in umliegende Regionen evakuiert, wo es keine Kampfhandlungen gibt.

Donezk und Luhansk sind das Herz der ukrainischen Industrie: Fast ein Sechstel des ukrainischen BIP wird dort erwirtschaftet. Der IWF schätzt, dass die Produktion in den zwei Regionen bis Ende 2014 um bis zu 20 Prozent schrumpfen wird. Im Außenhandel hat sich der Konflikt mit Russland schon bemerkbar gemacht: So hat in diesem Jahr die Ukraine erstmals mehr Waren in die EU geliefert, als nach Russland, heißt es aus der Handelskammer. Bisher hatte Russland mit einem Drittel des Außenhandels immer die Nase vorne.

Währenddessen surren die Maschinen in der Lemberger Schokoladefabrik munter weiter. Anatoli führt vergnügt durch das Fabrikgelände. Plötzlich wird er ernst. „Ich warte eigentlich nur noch auf den Einberufungsbefehl “, sagt Anatoli, der vor 20 Jahren seinen Pflichtdienst beim ukrainischen Heer ableistete. „Aber ich habe solche Angst vor dem Krieg.“ Neben ihm werden die Kartons mit der Aufschrift „Russland – die noble Seele“ gestapelt. Die Schokolade schmeckt plötzlich nicht mehr nach flockigen Bläschen, sondern nach absurdem Bruderkrieg.


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