Ukraine

Flucht statt Therapie

Vor einem Jahr lief alles ganz gut für Ruslan. Er hatte gerade wieder Fuß gefasst, eine gute Beziehung zu seinen Eltern, einen Job und sogar eine Freundin. Aus Politik machte er sich eigentlich nicht viel. Auch dann nicht, als die ersten Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf der Krim erschienen und die Bewohner am 16. März für den Anschluss an Russland stimmten. Und irgendwann Schritt für Schritt ukrainisches durch russisches Recht ersetzt wurde.

Ruslan war jahrelang schwer drogenabhängig. Amphetamine, Tabletten, Heroin. Vor knapp drei Jahren wurde er in ein Substitutionsprogramm in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, aufgenommen. Was die wenigsten der Betroffenen wussten: In Russland sind Drogenersatztherapien verboten. „Sie haben uns vor vollendete Tatsachen gestellt“, erinnert sich Ruslan. Mit dem 15. Mai wurde die Ausgabe von Ersatzdrogen wie Methadon unter hohe Strafen gestellt. Für Ruslan war das ein Schock. „Plötzlich fallen alle deine Pläne in sich zusammen.“

Mit einem Schlag wurden mehr als 800 Menschen, die eine Substitutionstherapie erhielten, von ihren Therapiemöglichkeiten abgeschnitten. Über ein Hilfsprogramm der HIV/AIDS Alliance wurde Ruslans Flucht nach Kiew organisiert. „Ich war schon vier Tage ohne Methadon und habe mich furchtbar gefühlt“, erinnert sich Ruslan. Er sitzt in einem Kiewer Cafe, Bürstenhaarschnitt, das Gesicht voller Sommersprossen. Er ist 29 Jahre alt, sieht aber jünger aus. „Wenn ich dort geblieben wäre, wäre ich jetzt schon tot.“


Einem Todesurteil gleich

Das Verbot der Drogenersatztherapien kam bei vielen Patienten einem Todesurteil gleich. Jeder Zehnte – also 80 bis 100 der ehemaligen Patienten – soll bereits gestorben sein, sagt der UN-Sonderbeauftragte für AIDS in Osteuropa und Zentralasien, Michel Kazatchkine. „Die häuftigsten Todesursachen sind Selbstmord und Überdosis“ so Kazatchkine. Innerhalb von sechs Wochen wurde die Methadon-Therapie abgesetzt – sieben Mal schneller als empfohlen, sagt der UN-Sonderbeauftragte.

In vielen Ländern – wie auch in Deutschland – werden Drogenersatztherapien eingesetzt, um den Kreislauf aus Abhängigkeit, Beschaffung und Kriminalität zu durchbrechen. Die Therapie gilt auch als wichtige HIV-Prävention, da die Ersatzstoffe unter ärztlicher Kontrolle eingenommen werden. Auf der Krim wurde die Drogenersatztherapie 2007 als Pilotprojekt eingeführt.

Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Medikamente wie Methadon und Buprenorphine durch ihre nachgewiesene Wirkung bei Drogentherapien auf die „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel“ gesetzt hat, sind diese Stoffe in Russland verboten. Russland setzt bei Drogenkranken auf eine „kalten Entzug“ durch Abstinenz und bezieht sich dabei auf Untersuchungen aus den 1960er und 1970er Jahren. „Bei jenen, die in einer Ersatztherapie sind, ist die Todesrate um zehn Mal höher, als bei denen, die nicht dieser unmenschlichen Behandlung ausgesetzt sind“, sagte der Leiter des Russischen Föderalen Dienstes für Drogenkontrolle, Wiktor Iwanow, bei einer Konferenz auf der Krim.


Hilfe in Kiew

Gesundheitsexperten argumentieren indes genau in die andere Richtung: Bleibt ein kalter Entzug unbehandelt, kann er auch zum Tode führen. Vor allem viele ältere Menschen sind durch eine komplexe Krankheitsgeschichte – wie Organschäden und AIDS – stark geschwächt, so Igor Kuzmenko vom Eurasian Network of People Who Use Drugs (ENPUD). Kuzmenko hat auf der Krim viele Jahre als Sozialarbeiter gearbeitet. Für viele werden die körperlichen und seelischen Qualen letztlich so unerträglich, dass sie sich wieder Straßenheroin besorgen – und an einer Überdosis sterben.

Auch Ruslan hat viele seiner Freunde verloren. Einer starb an einer Überdosis, der andere beging Selbstmord. Für viele ist mit dem Ende der Therapie auch ein wichtiges soziales Netz gerissen. Als Ruslan das letzte Mal auf der Krim war, um einen Freund zu beerdigen, seien sie zusammen gestanden, wie Halbtote, mit grauer, fahler Gesichtsfarbe, auf der Suche nach dem nächsten Schuss. „Da war so eine große Hoffnungslosigkeit in ihren Augen“, sagt Ruslan.

Insgesamt wurden 60 der ehemaligen Patienten nach Kiew gebracht, heißt es auf Anfrage aus dem Internationalen HIV/AIDS Alliance Zentrum in Kiew. Warum nutzen so wenige Leute das Programm? „Das Ziel der Therapie ist nun mal die Resozialisierung – raus aus dem kriminellen Milieu, rein in eine normale soziale Umgebung“, sagt Sozialarbeiter Kuzmenko. Das sei eine große Herausforderung. Doch durch die Therapie hätten viele wieder eine Arbeit gefunden oder sogar eine Familie gegründet. „Diese Menschen haben etwas zu verlieren, das sie sich sehr teuer und unter großen Mühen aufgebaut haben. Das gibt man nicht so einfach auf.“


Schuld auf beiden Seiten

Viele hatten sich aber aus ganz anderen Gründen gegen eine Flucht entschieden. Der Umsturz am Kiewer Maidan vor einem Jahr wurde in russischen Medien als „Putsch der Faschisten“, die neue Regierung als „Kiewer Junta“ diskreditiert. „Auch heute noch glauben manche meiner Freunde, dass sie auf den Straßen von Kiew von irgendwelchen Faschisten erschossen werden und bleiben lieber auf der Krim“, sagt Ruslan. Auch Ruslan selbst musste gegen den Willen seiner Familie fliehen. „Meine Großmutter ist Kommunistin und wollte mich nicht gehen lassen. Sie hat gesagt: Die Krim ist russisch – und basta!“

Das Problem hat sich schon längst auch auf den Donbass ausgebreitet, sagt Pawel Skala von der HIV/Aids Alliance in der Ukraine. 150 Menschen seien bereits von dort nach Kiew gebracht worden. Das ukrainische Gesundheitsministerium liefert seit Monaten keine Ersatzstoffe mehr in die Separatistengebiete. „Nicht alleine Russland hat Schuld an dieser Situation“, sagt Kuzmenko, „auch die ukrainische Regierung hat Schuld auf sich geladen.“ Mit der Annexion der Krim wurden auch die Methadon-Lieferungen auf die Krim gestoppt – was Kuzmenko scharf kritisiert.

Für Ruslan ist die Geschichte vorerst gut ausgegangen. Sein Leben hat sich wieder normalisiert, er hat einen Platz in einem Wohnheim und arbeitet als Kassier einer großen deutschen Lebensmittelkette. Aber die Sehnsucht nach seiner Heimat nagt trotzdem an ihm. „Als wir damals weggefahren sind, haben wir doch die feste Hoffnung gehabt, dass ich bald wieder zurückkehren kann. Dass sich die Regierungen auf einen Kompromiss einigen. Aber mittlerweile ist mir klar, dass ich so schnell nicht wieder nach Hause kommen werde.“

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Quellen:

Persönliche Gespräche in Kiew

UN-Sonderbeauftragter Michel Kazatchkine

Liste der unentbehrlichen Arzneimittel (WHO)

Russischer Föderaler Dienst zur Drogenbekämpfung – Statement von Wiktor Iwanow

HIV/AIDS Alliance Ukraine


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