Polen

Breslau entdeckt sein deutsches Erbe

Wer ohne eigenes Auto nach Breslau fahren will, kommt um den Bus kaum herum. Direktverbindungen aus Berlin und Dresden in die viertgrößte Stadt Polens, die als Kulturhauptstadt Europas 2016 auf einen Besucheransturm hofft, hat die Bahn kürzlich eingestellt. Rechts und links der neugebauten Autobahn erhält der Reisende einen ersten Einblick in die Geschichte Niederschlesiens, das bis 1945 zu Deutschland gehörte: Verfallene Bauernhäuser erinnern an eine vergangene Epoche, während moderne Einfamilienhäuser in direkter Nachbarschaft vom Aufschwung künden.

Der auffällige Kontrast zwischen Alt und Neu – er wird hier damit erklärt, dass die polnischen Bewohner Niederschlesiens noch bis in die 1980er Jahre hinein mit der unterschwelligen Angst vor einer Rückkehr der Deutschen lebten. Man investierte nicht in ein Haus, von dem man nicht wusste, wie lange man dort noch lebt. Einer, der gerne über diese Geschichte erzählt, ist Rafal Dutkiewicz, seit 2002 Stadtpräsident von Breslau. Der großgewachsene 55-Jährige, studierter Mathematik-Ingenieur, liebt auch die großen Erzählungen von Gut und Böse, Vertreibung und Vergebung. Mehr übrigens als kommunalpolitische Details wie ausgefallene Bahnverbindungen.

Dutkiewiczs Erzählung beginnt mit der „schrecklichen, schrecklichen Vertreibung“, wie er es nennt: Beinahe eine Million deutsche Einwohner mussten nach Ende des Zweiten Weltkriegs Breslau verlassen. Ihren Platz nahmen Polen ein, ebenfalls Heimatvertriebene, die ihre Häuser in der heutigen Westukraine zurücklassen mussten. Doch bereits 1965 war es ein Breslauer, der einen Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder initiierte, in dem der berühmte Satz stand: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“


Hohes Level an Geschichtstoleranz

„So etwas 20 Jahre nach dem Krieg in einer Stadt der Vertreibung zu schreiben, ist eine tolle Geschichte. Es beginnt damit, das etwas Böses passiert, dann gab es die Vergebung.“ Der nächste Höhepunkt in Dutkiewiczs Geschichte ist die Solidarnosc-Bewegung in den 1980ern, die den Bewohnern Breslaus half, ihre Identität als Einwohner einer im Krieg fast völlig zerstörten und wiederaufgebauten Stadt zu festigen. „Breslau ist heute eine europäische Stadt mit einem hohen Level an Toleranz für die gesamte Geschichte der Stadt, auch für die deutsche Geschichte.“

Wenn Breslau in einem halben Jahr Kulturhauptstadt wird, möchte es sich seinen Gästen genau so präsentieren – als eine Stadt, die mit ihrer schwierigen Geschichte ins Reine gekommen ist und in die Zukunft schaut. Breslau gilt unter den polnischen Städten als eine der jüngsten und dynamischsten. Im Herbst diesen Jahres sollen die Bürger an die Wahlurnen kommen, um sich bei einem Referendum zu richtungsweisenden Projekten zu äußern – der Bau einer U-Bahn steht ebenso zur Diskussion wie die Schaffung von Fahrradwegen und Grünflächen, die bislang 20 Prozent der Stadt ausmachen.

Als Einstimmung auf das Kulturhauptstadtjahr inszenierte der britische Performance-Künstler Chris Baldwin in diesem Monat ein Festival, dessen Bühnen 26 von mehr als 100 Brücken der Stadt an der Oder waren. Wäre es nach den Bewerbungen von Breslauer Projektgruppen gegangen, hätten alle 100 Brücken für den Verkehr geschlossen werden müssen. 


Feier der Komplexität

Einer, der eine Brücke bekam, ist der Theater-Künstler Dariusz Lech. In einem historisierenden Kostüm mit großem schwarzen Zylinder auf dem Kopf stand er an der alten Mieszczanskie-Brücke und inszenierte mit Laien-Schauspielern aus dem Viertel, darunter vielen Roma-Familien, die Eröffnung der Brücke im Jahr 1877 unter dem Namen Wilhelmsbrücke.

„Die Geschichte der Stadt ist merkwürdig, sowohl für uns Polen als auch für Deutsche“, sagt Lech. „Aber ich merke, dass ich als Breslauer auch stolz bin auf die deutsche Geschichte meiner Stadt. Wir nutzen diese Geschichte.“ Festival-Initiator Baldwin ist zufrieden damit, wie seine Idee von den Breslauern angenommen wurde: „Die Leute, die diese Projekte machen, feiern die Komplexität ihres geschichtlichen Erbes“, sagt er. „Sie lehnen es nicht ab, suchen nicht nach Reinheit. Sie feiern die Komplexität selbst, und das muss positiv sein.“


Weitere Artikel