Ukraine

Generation Tschernobyl

„Für uns bedeutet „86“ nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang.”

Nadia Parfan, Regisseurin aus Kiew, geboren 1986

„Tschernobyl ist natürlich ein großes Trauma für die ukrainische Gesellschaft, aber die Katastrophe hat nicht nur negative Folgen. Mit unserem Filmfestival für Film und Urbanistik „86“ versuchen wir unter anderem, den Blick auf die positiven Aspekte dieses Ereignisses zu lenken. Im Zentrum steht dabei die Gründung der Stadt Slawutitsch, die zur neuen Heimat für die Mitarbeiter des Tschernobyl Kraftwerks wurde.

Diese Stadt wurde gleich nach der Katastrophe 50 Kilometer östlich von Tschernobyl gebaut, man hat dafür Architekten aus der ganzen Sowjetunion eingeladen. Sie ist ein Denkmal für die sowjetische Architektur, die letzte Verwirklichung einer sowjetischen Utopie. In dieser Stadt ein Filmfestival zu veranstalten ist unsere Art, das Trauma aufzuarbeiten. Natürlich zeigen wir dabei sehr unterschiedliche Filme. Aber für uns bedeutet „86“ nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang.

Wir, die Organisatoren, gehören selbst zur Generation 86. Wir sind Menschen, die keine Erinnerungen mehr an die Sowjetunion haben, dafür aber noch an die Welt ohne Internet. Vielleicht sind wir die letzte Generation, die noch vom sowjetischen Begriff des „Gewissens“ geprägt wurde. Er ist immer noch Grundlage unseres Handelns, während spätere Generationen pragmatischer erzogen wurden.”

Nadia Parfan ist Ko-Gründerin des Slawutitsch Filmfestivals „86“.

„Tschernobyl ist der exotischste Ort der Welt“

Markijan Kamysch, Schriftsteller aus Kiew, geboren 1988

„Als Schriftsteller finde ich das Thema Tschernobyl unheimlich interessant. Das ist der exotischste Ort auf der ganzen Welt, er ist wie ein eigenständiger Staat innerhalb der Ukraine, der nach eigenen Gesetzen funktioniert. Außerdem kann ich mich in der Zone erholen, es fühlt sich wie Urlaub für mich an. Etwa 20 Mal im Jahr fahre ich als illegaler Tourist hin, ich laufe durch die Wälder, schlafe in den verlassenen Häusern.

Manche bezeichnen mich als Stalker, manche als Idiot. Tschernobyl ist ein großes Thema in meinem Leben, deshalb habe ich meine Faszination in meinen Debütroman „Die Zone“ verarbeitet. Vor kurzem ist er auch in Frankreich erschienen („La Zone“, Flammarion). Mein zweiter Roman heißt „Kiew-86“ und darin erlaube ich mir, das Szenario durchzuspielen, dass auch Kiew zu einer Stadt wie Prypjat werden konnte. Diese Gefahr bestand tatsächlich. Es gab sogar schon Pläne für die Evakuation Kiews. Nur dank der Liquidatoren erleben wir Kiew heute so, wie es ist, sie haben verhindert, das Kiew zum zweiten Prypjat wurde.

Mein Vater war auch ein Liquidator. Leider hat er davon gesundheitliche Schäden davongetragen und ist vor 15 Jahren im Alter von 45 Jahren verstorben. „Kiew-86“ habe ich ihm gewidmet.”

Markijan Kamysch fährt oft in die Zone um Tschernobyl und campiert dort. In seinem Roman „Kiew 86“ verarbeitet er das Trauma der Atomkatastrophe.

„Jede Stadt hat eine Seele, und in Prypjat kann man sie besonders deutlich spüren”

Nata Zhyzhchenko, Sängerin aus Kiew, geboren 1985

„Für mich war Tschernobyl immer ein privates Thema. Mein Vater war als Liquidator der Tschernobyl-Katastrophe tätig. Wenn er Dienst hatte, wusste ich nie, wohin er verschwindet. Das Wort „Tschernobyl“ war oft zu hören, aber natürlich habe ich erst später mit ihm darüber gesprochen. Ich habe Ethnographie und Kulturwissenschaften studiert und meine Abschlussarbeit zum Thema „Der Einfluss des Atomunfalls im Tschernobyl-Kraftwerk auf die Kulturregion „Polesien“ geschrieben.

Und nun ist unsere neue Platte dem 30. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe gewidmet. Im Track „1986“ benutzen wir den Originalmitschnitt eines Telefon-Gespräches zwischen der Telefonzentrale der Stadt Prypjat und der Feuerwehr vom 26. April 1986. Auf Youtube hat jemand diesen Mitschnitt „das gruseligste Telefongespräch des 20. Jahrhunderts“ genannt. Genau so sehe ich es auch. Trotzdem ist unser Track ein leichter und optimistischer geworden.

Auch die Sperrzone um Tschernobyl ist für mich heute ein Ort, an dem ich mich wohl fühle. Es ist dort so ruhig, wie sonst nirgendwo. Ich fahre gerne in die Zone. Am spannendsten finde ich die verlassene Stadt Prypjat. Ich glaube, dass jede Stadt eine Seele hat, und in Prypjat kann man sie besonders deutlich spüren. Dort werde von neuen Ideen und Emotionen erfüllt, die mir auch nach der Reise noch Energie geben.

Ich glaube, das Thema Tschernobyl ist auch heute noch sehr aktuell, obwohl es in unserer Gesellschaft in den Hintergrund geraten ist. Wenn es uns gelingt, mit der Musik von „Onuka“ an dieses wichtige Ereignis in unserer Geschichte zu erinnern und vielleicht einen neuen Blick darauf zu werfen, wäre ich glücklich.”

Nata Zhyzhchenko ist Frontfrau der Elektro-Pop-Band „Onuka“.

„Tschernobyl und der Holodomor sind die wichtigsten Ereignisse für die nationale Identität in der Ukraine”

Stanislaw Menzelewskyi, Kulturwissenschaftler aus Kiew, geboren 1983

„Ich wurde in Moldau geboren, mehrere Jahre habe ich dann im Osten der Ukraine, in Kramatorsk, gewohnt und war biografisch nicht direkt mit der Tschernobyl-Katastrophe verbunden. Eines Tages rückte allerdings dieses Thema ins Zentrum meines wissenschaftlichen Interesses. Tschernobyl ist zusammen mit dem Holodomor, der organisierten Hungersnot 1932-1933, eines der wichtigsten Ereignisse für die nationale Identität in der Ukraine. Dabei erinnert man sich zwischen den Jahrestagen nur selten daran. Das ist traurig, denn die Erfahrung westlicher Länder zeigt uns, dass man mit solchen Traumata ständig arbeiten müsste, statt sie zu verdrängen.

Dieses bürokratische Jahrestagsgedenken ist eine Fortsetzung einer sowjetischen Tradition der Erinnerungspolitik. Dabei entstehen bestimmte Konzepte. In Bezug auf Tschernobyl ist dies in erster Linie das Motiv des Opfers. In der staatlichen Rhetorik verwandeln sich alle Ukrainer in passive Objekte, die der Sowjetunion zum Opfer fielen, man ignoriert dabei jegliche aktive Rolle von Ukrainern in der kommunistischen Geschichte.

Damit ist auch das zweite Problem verbunden. Die visuelle Erinnerungskultur zeigt deutliche religiöse Anklänge. Man findet biblische Motive auf den Denkmälern und in den Museen. Mit dieser Symbolik wird Tschernobyl ausschließlich zum Kampf zwischen Gut und Böse stilisiert. Ich glaube, um unsere Arbeit am kulturellen Gedächtnis zu verbessern, sollten wir als Erstes Tschernobyl von dieser sakralen Überhöhung befreien und nüchterner analysieren.”

Stanislaw Menzelewskyi ist Leiter der wissenschaftlichen Abteilung am Dovzhenko Zentrum in Kiew.

Fotos: Inga Pylypchuk / Fotovon Nata Zhyzhchenko: Andriy Makukha


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