Ukraine

Gedämpfte Vorfreude auf die EM

„Für die Ukraine ist das viel mehr als nur eine Fußball-EM“, sagte Petro Poroschenko vor zwei Wochen, als er auf dem Michaelplatz in Kiew die ukrainische Nationalmannschaft in das letzte Trainingslager verabschiedete. Ganze 20 Minuten dauerte die gewohnt emotionale Rede des ukrainischen Präsidenten, bei der nicht nur Nationalspieler und Trainerstab anwesend waren. Eingeladen wurden auch die Soldaten, die immer noch im blutigen Krieg im Osten des Landes kämpfen. Zusammen mit ihren Kindern konnten sie die ukrainische Mannschaft persönlich begrüßen und viel Glück für die kommende EM wünschen.

Besonders im Fußball sind Krieg und Frieden im vorherigen EM-Gastgeberland tief miteinander verwoben. Während im Zentrum von Kiew zwei große Fanmeilen für das Public Viewing aufgebaut werden, ist in Donezk, der Halbfinale-Stadt von 2012, nur wenig von der EM geblieben. Seit zwei Jahren ist der fünfgrößte Ort der Ukraine von den prorussischen Separatisten besetzt. Der neue Flughafen, der extra für die EM gebaut wurde, wurde durch die Kämpfe zerstört. Auch die Donbass-Arena, einst als bestes Stadion Osteuropas gelobt, wurde beschossen. „Wir könnten dort auch jetzt noch ein Fußballspiel austragen, aber die Lage lässt das nicht zu“, erklärt Serhij Palkin, Generaldirektor von Schachtar Donezk.

Nun sind die Spieler aus den Donbass-Vereinen das Gesicht des ukrainischen Teams in Frankreich. Zusammen mit Sorja Luhansk stellt Schachtar, der seine Heimspiele meistens im westukrainischen Lwiw austrägt, gleich zehn Spieler aus dem aktuellen EM-Kader. Einige der EM-Spieler sind in der ukrainischen Öffentlichkeit sehr umstrittenen, etwa der Innenverteidiger Jaroslaw Rakizkij, der sich seit Jahren weigert, die ukrainische Nationalhymne mitzusingen. Für die EM wurden zudem drei Spieler nominiert, die in der russischen Liga ihr Geld verdienen – was der patriotische Teil der Fan-Gemeinde überaus kritisch sieht.


Nicht die besten Freunde

„Die Ukraine ist im Krieg – und viele Vertreter der meist nationalistischen Ultras-Bewegung engagieren sich selbst als Freiwillige im Donbass. Deswegen kommt die Empörung nicht gerade überraschend“, erklärt Danylo Wereitin, Journalist des größten ukrainischen Sportsenders TK Futbol. In Fachkreisen wird jedoch nicht die Nominierung an sich kritisiert, sondern die Art und Weise, wie sie vonstatten gegangen ist. „Der ukrainische Verband hat wieder intransparent gehandelt. Die Spieler wurden zunächst nicht in den erweiterten EM-Kader einberufen – und ein wenig später waren sie plötzlich da. Das kann niemand verstehen“, sagt Wereitin. Dass außerdem die Spieler der beiden Top-Klubs Schachtar und Dynamo Kiew nicht die besten Freunde sind, sollte die Stimmung in der Kabine nicht unbedingt verbessern.

Und trotzdem blicken viele Menschen – anders als zahlreiche Experten – mit Optimismus auf ihre Nationalelf. Seit Wochen sind mehr und mehr ukrainische Nationaltrikots auf den Kiewer Straßen zu sehen, vor dem Olympijskyj-Stadion gibt es bereits erste EM-Partys. „Das Land braucht jetzt diese gute Stimmung, die die Menschen in verschiedenen Regionen des Landes vereint. So wie nach dem ESC-Sieg von Jamala“, sagt Andrij, der 41-jährige Fan von Dynamo Kiew und der ukrainischen Nationalmannschaft. Seit etwa zehn Jahren verpasst er kein Heimspiel, eine Reise zur EM nach Frankreich ist ihm allerdings nicht geglückt: „Wegen der Krise fehlt mir leider das Geld. Ich bin jedoch sicher, dass unsere Jungs die K.-o.-Runde erreichen.“

„Der Fußball ist zu einer Kraft geworden, die das Land vereinen kann“, glaubt auch Andrij Pawelko, Präsident des ukrainischen Fußballverbandes FFU. Sein Verband hat sich in den letzten Wochen angestrengt, um die Fanmeilen in allen Regionen der Ukraine zu organisieren – außer im Donbass und auf der Krim. „Meine Erinnerung an die Heim-EM sind nicht die Spiele, sondern die Menschen mit ukrainischen Fahnen in Donezk, die laut unsere Nationalhymne sangen“, sagte Petro Poroschenko vor zwei Wochen. Diese Bilder wird die Ukraine während der EM in Frankreich nicht sehen.


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