Montenegro

Mit oder ohne Serbien?

Entscheiden die kleinen Volksgruppen das Referendum?

Das Territorium der Republik Montenegro, die an Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien grenzt, entspricht mit knapp 14.000 Quadratkilometern etwa einem Drittel der Fläche der Schweiz. Von den insgesamt 650.000 Einwohnern des Landes leben 150.000 in der Hauptstadt Podgorica, dem früheren Titograd.

Bei der letzten Volkszählung von 2003 bezeichneten sich 41 Prozent als ethnische Montenegriner und 30 Prozent als Serben. Beide Volksgruppen sind christlich-orthodox und sprechen die gleiche Sprache – Serbisch. Die Montenegriner sehen sich aber als eigenständiges Volk neben den Serben und berufen sich auf die über Jahrhunderte von Serbien unabhängig verlaufene montenegrinische Geschichte. Knapp drei Viertel von ihnen gaben in der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes CEDEM von Ende April an, für ein souveränes Montenegro stimmen zu wollen. Dagegen sind über 80 Prozent der montenegrinischen Serben für einen Fortbestand der Union Serbien-Montenegro.

Die drittgrößte Bevölkerungsgruppe bilden mit 15 Prozent die muslimischen Bosnjaken. CEDEM rechnet damit, dass sie zu vier Fünfteln für die Unabhängigkeit stimmen werden. Sieben Prozent der Einwohner Montenegros sind ethnische Albaner. Ihre Muttersprache ist Albanisch, mehrheitlich gehören sie dem Islam an, einige sind auch Christen. Ihr Zustimmungswert zur Souveränität liegt gar bei 95 Prozent.


Am 21. Mai stimmen 479.523 stimmberechtigte Montenegriner darüber ab, ob sich das kleine Land zwischen Bergen und Adriaküste vom großen Bruder Serbien trennt. Der Ausgang des Unabhängigkeits-Referendums scheint auch wenige Tage vor dem Urnengang noch völlig offen zu sein. Ein Streifzug entlang der Grenze zu Serbien macht deutlich, wie gespalten die montenegrinische Bevölkerung in dieser Frage ist. Die ethnischen Minderheiten der Bosnjaken und Albaner könnten die Abstimmung entscheiden.

„Natürlich wird Montenegro souverän, hier wird bald eine offizielle Staatsgrenze verlaufen“, erklärt der junge montenegrinische Zollbeamte euphorisch, während er den Reisepass kontrolliert. Er rechnet damit, dass seine Landsleute zu 60 Prozent für die Unabhängigkeit Montenegros und gegen die Weiterführung der Union mit Serbien stimmen werden. Für ihn würde sich an seinem Arbeitsplatz kaum etwas ändern: Schon seit zwei Jahren sieht der Grenzübergang an der Hauptstraße zwischen dem serbischen Novi Pazar und dem montenegrinischen Rozaje aus wie eine gewöhnliche internationale Zollstelle, denn sowohl die Polizei als auch das Zollwesen funktionieren in Montenegro und Serbien unabhängig voneinander. Lediglich die Außen- und Verteidigungspolitik betreiben die beiden ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken heute noch gemeinsam.

Die Siegessicherheit des Zollbeamten könnte allerdings verfrüht sein. Denn nach der jüngsten Umfrage des regierungsnahen montenegrinischen Center for Democracy and Human Rights (CEDEM) liegen die Befürworter eines souveränen Montenegro zurzeit lediglich mit 56,3 Prozent vorn. Dies ist zwar eine klare Mehrheit, sie bewegt sich aber nur knapp über dem für die Unabhängigkeit erforderlichen Wert von 55 Prozent Ja-Stimmen, auf dem die Europäische Union besteht. Es wird am 21. Mai also auf jede einzelne Stimme ankommen, entsprechend buhlen beide Lager bis zuletzt um die Gunst der knapp 480.000 Stimmberechtigten.

An der Spitze der Unabhängigkeits-Befürworter steht der montenegrinische Ministerpräsident Milo Djukanovic (44). Seit 1991 bestimmt er abwechslungsweise als Regierungschef oder Präsident die Politik der kleinen Adria-Republik. Während ihm seine Gegner vorwerfen, er würde Montenegro wie sein eigenes Königreich beherrschen, sehen seine Anhänger in ihm ihren Retter: „Ich kann gar keine Worte dafür finden, wie intelligent und weise unser Milo ist, dank ihm haben wir alles, was wir zum Leben brauchen“, sagt der 65-jährige Cedomir aus dem 120-Seelen-Dorf Donje Zaostro am Fluss Lim im zerklüfteten Nordosten des Landes, während er Kaffee kocht und Pflaumenschnaps serviert. Cedomir ist Mitglied von Djukanovics Demokratischer Partei der Sozialisten (DPS) und bezeichnet sich selbst stolz als "Montenegriner", während er sein Parteibuch zeigt. Auf seinem Taufschein stehe zwar "Serbe", das sei aber völlig falsch. „Dank Milo blieben wir bis heute vom Krieg verschont, und mit ihm werden wir jetzt endlich unabhängig.“ Er liebe Serbien, wo er 15 Jahre als Agronom gearbeitet habe. Aber es könne nicht gut gehen, wenn zwei Brüder im selben Haus lebten, ist Cedomir überzeugt.

Ganz anders klingt es in dem zwischen den Städten Berane und Rozaje gelegenen Dorf Dapsici. Kaum jemand hat Arbeit im 1200 Einwohner zählenden Ort im gebirgigen Hinterland Montenegros. Die Rentner Milorad und Zarija sitzen auf einer klapprigen Bank vor dem Haus und verstehen nicht, warum Serbien und Montenegro getrennt werden sollen. „Wir haben doch die gleiche Sprache, die gleiche orthodoxe Kirche – wir sind ein Volk“, meint Milorad. Und Zarija fügt wütend hinzu: „Kommt die Unabhängigkeit, dann wird sich Djukanovic hier aufführen wie ein Diktator.“ Schuld an allem Übel seien Amerika und Europa mit ihren Geheimdiensten, die mit Djukanovic unter einer Decke steckten. Die beiden Rentner lassen kein gutes Haar am Premierminister. Er sei ein Krimineller, der durch Drogenhandel, Schmuggel und Mafiageschäfte zu Reichtum und Macht gekommen sei. Tatsächlich hatte die Staatsanwaltschaft von Neapel 2003 die Absicht, wegen mutmaßlichen Zigarettenschmuggels Haftbefehl gegen Djukanovic zu erlassen. Dank seiner Immunität blieb ihm dies aber erspart.

Zarijas Frau ist es gleichgültig, wer im weit entfernten Podgorica an den Hebeln der Macht sitzt: „Ob Djukanovic oder ein anderer interessiert mich nicht. Was ich will, ist Reisefreiheit und Arbeit für unsere Kinder!“ Wie sie fürchten viele, dass im Falle einer Unabhängigkeit Montenegros nicht mehr wie bisher der Personalausweis ausreicht, um nach Serbien einzureisen, sondern dass dazu ein Pass oder gar ein Visum verlangt werde.

Diese Frage der Einreisebestimmungen hänge ja nicht von Montenegro, sondern von Serbien ab, erklärt Rifat Rastoder, der Vizepräsident des montenegrinischen Parlamentes, dieser Zeitung. Was Montenegro betreffe, garantiere er, dass auch im Falle der Unabhängigkeit die Staatsangehörigen aller Nachbarländer für die Einreise lediglich den Personalausweis benötigen, nicht mehr. „Es ändert sich nichts im Vergleich zur heutigen Situation, die Gegner der Unabhängigkeit wollen den Bürgern mit solchen Aussagen nur Angst machen“, so Rastoder.

Überhaupt scheint die Angst eine der wichtigsten Waffen im Abstimmungskampf um die Unabhängigkeit Montenegros zu sein. Auch die Unabhängigkeits-Befürworter machen sich diese zu Nutze – vor allem wenn sie bei den montenegrinischen Bosnjaken und Albanern (vgl. Kasten) um Stimmen werben. Mehr als 80 Prozent von ihnen werden laut den jüngsten Umfragen ein Ja in die Urne legen. Sie könnten den Ausgang des Referendums entscheiden.

„Die Bosnjaken Montenegros werden nicht in erster Linie für die Unabhängigkeit, sondern vor allem gegen Serbien stimmen“, bestätigt der Politikanalyst Sead Sadikovic aus Bijelo Pole. Die Rolle Serbiens im Krieg in Bosnien-Herzegowina und das Massaker von Srebrenica mit 8000 muslimischen Opfern seien bis heute nicht vergessen. Ähnlich sei die Ausgangslage bei den montenegrinischen Albanern und ihren Erfahrungen mit Serbien im Kosovo-Konflikt.

Dies bestätigt sich im fast ausschließlich von Bosnjaken bewohnten Bergdorf Kanje nördlich von Bijelo Polje, unweit der Grenze zu Serbien. Dzevad sitzt vor seinem kleinen Lebensmittelladen. „Djukanovic hat uns vor dem Krieg bewahrt. Ohne ihn hätte Milosevic unsere ganze Region von den Muslimen 'gesäubert'“, ist Dzevad überzeugt. Auch Jungbauer Halil ist ein treuer Anhänger Djukanovics, wie fast alle der 300 Dorfbewohner, die vorwiegend von der Landwirtschaft leben. „Ich kann mir keinen besseren Herrscher als Milo vorstellen. Er gibt uns kostenlos Saatgut und günstige Kredite für Kühe, dank ihm leben wir gut“, schwärmt der Bauer.

Hajrudin Zaric, der 35-jährige Imam der kleinen Moschee von Kanje, beurteilt die Lage des Dorfes allerdings weniger euphorisch. Es gebe kaum Arbeit, die Landwirtschaft reiche fast nur zur Selbstversorgung. Viele Leute hätten Schulden. Aber warum sind sie denn trotzdem geschlossen für Djukanovic und dessen Unabhängigkeitsprojekt? „Es ist die von der Regierung geschürte Angst vor Serbien", sagt der Imam. Ein paar Schritte von der Moschee entfernt ist die Bäuerin Halima dabei, ihre Paprika-Setzlinge zu gießen. Die Berge am Horizont hinter ihr gehören bereits zu Serbien. Sie stimme auch für die Unabhängigkeit, ruft sie über den Zaun. Und warum? Da bleibt sie stumm – und fragt schließlich zurück? „Was denken Sie denn, was für uns besser wäre?“


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