Polen

Mal ehrlich: Das Stehpult

Vor Weihnachten wartete ich in Warschau auf die Sendung eines Stehpults, das ein Schreiner auf der schwäbischen Alb für mich gezimmert hatte. Niemand soll jetzt fragen, wozu ich in Warschau ein Stehpult von der schwäbischen Alb brauche. Das ist eben so. Manchmal braucht jemand in Warschau ein Stehpult von der schwäbischen Alb und dann sollte man nicht fragen, warum?, sondern: wann? und sich beeilen, es zu liefern.

Ein Stehpult aus Zwetschgenholz. Pflaume oder Zwetschge – ich kenne mich da nicht aus, aber ich weiß, dass ein Stehpult von einem Schreiner von der schwäbischen Alb aus Zwetschgenholz eine Sache ist, die von keiner Post vermasselt werden sollte. Deshalb wählte ich als Transporteur der Wahl einen Dienstleister, der in den frühen achtziger Jahren Polen während des Kriegsrechts mit Paketen versorgte. Waschmittel, Kühlschränke, Teddybären und Schokolode. Alles. »Bazar« oder so ähnlich hieß die Firma und auf sie war Verlass.

Nachdem das Stehpult nach 2 Wochen noch nicht angeliefert ist, werde ich unruhig. Wo ist das Stehpult. Aus Zwetschgenholz. Von der schwäbischen Alb?

Meine Recherchen bringen mich auf die Spur von Herrn Harunjuk. Ich rufe ihn am Samstag an. Am Telefon eine ungnädige, unwirsche Frau. Das Gespräch verlief in etwa so:

»Stehpult? Wieso? Woher?«
»Aus Deutschland. Ein Möbel von klar erkennbaren Ausmaßen. Kein Weihnachtspäckchen. Ein Weihnachtspaket. Von Weitem zu erkennen allein schon wegen seines Umfangs. Ende November aufgegeben. In Reutlingen. Süddeutschland, liebe Frau. Ja, Papiere sind da, Nummer und alles. Bazar, Sie wissen schon.«
»Ich hab hier keine Nummern. Die schicken mir ja nichts. Aber ja, richtig: Möbel. Das ist da. Aber wir haben jetzt so viel zu tun, da kann ich nicht sagen, wann Sie das kriegen...«
»Liebe Frau, wir haben das Möbel Ende November aufgegeben. Jetzt ist fast Weihnachten. Können wir jetzt bitte einen Termin ausmachen, zu dem Sie das Teil bringen: heute, morgen, wie Sie wollen.«
»Heute? Was? Nein. Das geht nicht. Morgen, Sonntag, da ist Kirche.«
»OK. Nach der Kirche.«
»Nein, ich weiß nicht. Jetzt ist erst mal Mokotów dran. Also wir rufen Sie dann an.«
»Nein, Sie rufen mich nicht DANN an, Sie machen JETZT einen Termin mit mir aus.«
»Nein, das geht nicht, was glauben Sie denn, was wir gerade zu tun haben. Wir ersticken in Paketen und alle wollen das noch bis Weihnachten haben. Aber ich gebe Ihnen die Nummer vom Auslieferer, dann können Sie das ja mit dem ausmachen.«
»Liebe Frau, der Auslieferer ist Ihre Sache, nicht meine. Aber wenn schon, geben Sie die Nummer.«

Telefonanruf beim Auslieferer. Es meldet sich eine ungnädige, unwirsche Frau, die während des Gesprächs mit jemand anderem Rücksprache hält. Das Gespräch verlief in etwa so:

»Stehpult? Wieso? Woher?«
»Aus Deutschland. Ein Möbel von klar erkennbaren Ausmaßen. Kein Weihnachtspäckchen. Ein Weihnachtspaket. Von Weitem zu erkennen allein schon wegen seines Umfangs. Ende November aufgegeben. In Reutlingen. Süddeutschland, liebe Frau. Ja, Papiere sind da, Nummer und alles. Bazar, Sie wissen schon.«
»Ach ja, tatsächlich. Das steht ganz hinten im Lager. Richtig. Riesig, nimmt wahnsinnig Platz weg. Also wann wir das ausliefern, kann ich nicht sagen. Da kommen wir im Augenblick doch gar nicht dran. Sie machen sich ja keine Vorstellung, was wir hier zur Zeit haben. Erst müssen wir mal all die Weihnachtspäckchen ausliefern.«
»Liebe Frau...«
An dieser Stelle erfand ich eine Oma, die dringend auf das Stehpult wartet und erwartet, dass es sich unter dem Weihnachtsbaum wieder findet. Wenn nicht, trifft die arme alte Frau der Schlag. Ihr ganzes Leben dreht sich mittlerweile nur noch um das Stehpult aus Deutschland.
»Na ja, ich verstehe. Also wissen Sie, also wir schaun mal.«
»Also morgen, Sonntag, nach der Kirche?«
»Also ich weiß nicht. Aber wir sehen mal. Wir rufen dann an.«

Der Sonntag vergeht ohne Anruf. Die Kirchenglocken verklingen, niemand klingelt an unserer Haustür.

Montag.
Telefon an den Auslieferer. Mehrfach. Mehrfach ohne Erfolg. Vom Handy, vom Festnetz. Endlich am Abend: eine Verbindung.

»Stehpult, ja, ulica Wesoła, ja. Schon mal, ja die Oma wartet, ja bald trifft sie der Schlag, ja wir fahren bald weg und was dann?«
»Mein lieber Herr, ich verstehe das, aber verstehen Sie bitte auch mich: Wir sind hier völlig überfordert, ersticken in Paketen und kommen nicht nach. Rufen Sie bitte den Lagermeister an, der allein kann entscheiden, wann was ausgeliefert wird.«
»Liebe Frau, Ihr Dasein jammert mich, aber ich will jetzt mein Stehpult haben. Verstehen Sie: STEHPULT? JETZT!«
»Nein, Sie verstehen nicht, ich kann das nicht entscheiden, zuständig ist der Lagermeister. Ich gebe Ihnen die Nummer. Bitte rufen Sie ihn an.«
»Liebe Frau, ich will nicht beim 4. oder 5. Herrn Sowieso anrufen, aber bitte, ich schrei ja nicht, ich weiß, Sie sind ein armes Würstchen in der langen Kette der Ausgebeuteten, geben Sie mir die Nummer, obwohl es mir gegen den Strich geht, dass ich überall anrufen muss.«
»Hier die Nummer.«
»Danke, notiert. Wie heißt der Mensch?«
»Harunjuk.«
»?? !! Liebe Frau, Herrn Harunjuk habe ich schon angerufen, da waren Sie noch gar nicht auf der Welt. Er hat mich an SIE verwiesen. Ich fahr doch nicht Achterbahn für Sie!!«
»Tut mir leid, mehr weiß ich nicht, kann ich nicht, wir kommen doch einfach nicht mehr nach.«

»Guten Tag, Herr Harunjuk. Ja, wegen des Stehpults.«
»Stehpult? Wieso? Woher?«
»Aus Deutschland. Ein Möbel von klar erkennbaren Ausmaßen...«
»Ja, richtig. Das ist da. Also, wann wir das ausliefern, kann ich nicht sagen. Da kommen wir im Augenblick doch gar nicht dran. Sie machen sich ja keine Vorstellung, was wir hier zur Zeit haben. Erst müssen wir mal all die Weihnachtspäckchen ausliefern.«
»Lieber Herr Harunjuk. Wenn Sie jetzt mit mir keinen festen Termin ausmachen, dann lade ich Sie zur Beerdigung meiner Großmutter am 25. Dezember ein. Wissen Sie eigentlich, dass diese arme Frau nur noch dafür lebt, dass sie am 24. unter dem Weihnachtsbaum das Stehpult sieht? Und Sie wollen mir nicht versprechen, dass Sie es
rechtzeitig liefern?! Wir haben es Ende November verschickt. Ja, aus Reutlingen. Ja, aus Süddeutschland. Ja, mit Bazar. Was glauben Sie eigentlich! Wir engagieren eine private Firma und dann dauert das länger als bei der sprichwörtlich untauglichen polnischen Post!?! Meine Oma! Sie wird das nicht überleben. Kein Stehpult, keine Oma. Nichts. Also, wie gesagt, zum Begräbnis meiner Großmutter lade ich Sie schon jetzt ein. Oder Sie machen jetzt mit mir einen festen Termin aus, an dem Sie uns das Stehpult liefern. NEIN, den Auslieferer ruf ich nicht an, den habe ich schon angerufen.«
»Ja also, ja also, am Mittwoch bring ich Ihnen das Möbel. Also wirklich.«
»Am 24.?«
»Ja, also am Mittwoch. Ja, am 24.«
»Gut. Können wir eine Zeit ausmachen?«
»Also, ja, also nein, also ich bring das persönlich vorbei. Also wann, also das kann ich nicht sagen, aber da fahr ich noch alle die großen Sachen aus, die noch liegen geblieben sind. Also Sie wissen schon, da sind wahnsinnig viele Weihnachtspäckchen.«
»Lieber Herr Harunjuk. Versteh ich Sie richtig, dass wir jetzt für Mittwoch, den 24. FEST verabredet sind?«
»Ja.«
»Na prima. Ich warte auf Sie.«

Am 24. steht das Stehpult bei mir im Flur. Die Oma lebt.
Herr Harunjuk, Sie sind ein Engel.

Copyright © by Albrecht Lempp

Artikel erschienen erstmals auf Deutsch im Jahrbuch Polen 2011 Kultur, Wiesbaden 2011.
Dank an das Deutsche Polen Institut Darmstadt.


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