Gestohlene Zeit
In letzter Zeit kam es kaum zu großen Protestbewegungen in dem seit einem Vierteljahrhundert von Lukaschenko regierten Belarus. Aber noch immer gilt: Wer Kritik am Regime des autokratischen Präsidenten übt, riskiert den Verlust des Arbeits- oder des Studienplatzes und muss mit einer Haftstrafe rechnen. So in großem Ausmaß geschehen am 19. Dezember 2010 nach Protesten anlässlich der Präsidentenwahlen. Im Vorfeld der Eishockey-Weltmeisterschaft im Mai 2014 wurden Dutzende politische Aktivisten willkürlich verhaftet und in Schnellverfahren verurteilt, um Proteste während der Spiele zu unterbinden. Zuletzt kam es 2017 im Zuge des neuen Sondersteuer-Gesetzes für Arbeitslose zu großen Protesten mit mehreren Hundert Festnahmen Oppositioneller. In seiner Arbeit „Stolen Days“ porträtiert der Fotograf Maxim Sarychau Belarussen, die genau das erlebt haben. Er lässt sie erzählen - über die Umstände ihrer Verhaftung, - über die Situation in Belarus und über den Diebstahl ihrer Lebenszeit.
Dimitry Dashkevich ist der Anführer der oppositionellen rechtszentristischen Organisation “Malady Front” und wurde im April 2014 von der Polizei vor seinem Zuhause verhaftet. Nach den durch die Präsidentschaftswahl ausgelösten Protesten 2010 saß er schon einmal für zweieinhalb Jahre im Gefängnis. Während der 25-tägigen Haft 2014 konnte der damals 32-jährige nicht bei seiner Frau sein, die im neunten Monat schwanger war.
Alexander wurde im Zuge der vorsorglichen Inhaftierungen kurz vor der Eishockey-Weltmeisterschaft im Mai 2014 verhaftet, indem die Polizei sein Handyund das seiner Freundin ortete, als sie gerade im Stadtzentrum unterwegs waren. Während seiner 20-tägigen Haft verpasste der 30-jährige Freizeit-Fussballer drei der Meisterschaftsspiele.
„Es spielt keine Rolle, ob du ein Oppositioneller bist, ein Athlet, ein Aktivist oder ein Alkoholiker. Wenn es den Befehl gibt, wird die Repressionsmaschinerie jeden vernichten. Aber diese Geschichte hat mich stärker gemacht, dank all der Menschen, die mich unterstützt haben."
Sergey Matskoyts wurde im Juni 2014 morgens auf der Arbeit festgenommen und zu 20 Tagen Haft verurteilt. Die offizielle Begründung seiner Verhaftung war "kleines Rowdytum" und "Ungehorsam gegenüber Polizisten". Der 47-jährige ist Aktivist der oppositionellen Gruppe “European Belarus”. Während seiner Haftzeit konnte er sich nicht um die Autoreparatur-Kooperative kümmern, bei der er arbeitet.
"Es gibt keine Gesetze in Belarus, es gibt keine Ordnung. Alles kann passieren - zu jeder Zeit kann man festgehalten oder geschlagen werden. Solche Handlungen sind zur Norm geworden. Niemand ist geschützt."
Leonid Smovzh wurde bei einer Protestkundgebung anlässlich des Tschernobyl-Jahrestages am 26.April 2014 an einer Bushaltestelle zum wiederholten Male verhaftet, weil ihm wegen Fluchens "kleines Rowdytum" vorgeworfen wurde. 2013 hatte der einstige Befürworter Lukaschenkos bei Protesten gegen die Regierung teilgenommen. Während seiner 20-tägigen Haft musste der 59-Jährige Automechaniker den begonnenen Hausbau seiner Familie einstellen.
"Jetzt nehmen die Menschen an den Protesten der Opposition teil, vor denen das Regime sich nicht fürchtet. Sie laufen, zeigen ihre Plakate und verschwinden einfach. Ich sehe keine Chance für Veränderungen in den nächsten sechs Jahren."
Sergey Kazakov wurde im Mai 2014 auf einer Polizeidirektion verhaftet. 2010 saß er wegen der damaligen Proteste gegen die Regierung schon einmal für sieben Monate im Gefängnis und wurde unter diesem Vorwand auf die Polizeistation geordert. Anschließend wurde er wegen "kleinen Rowdytum" und "Ungehorsam gegenüber Polizisten" für 20 Tage Gefängnis verurteilt. Der 27-Jährige arbeitet als Barkeeper in einem der Minsker Casinos und spielt Gitarre in einer Rock-Band. Während der Zeit in Haft verpasste er einen ihrer Auftritte.
Vadim Zharomskyi wurde 2015 zusammen mit einem Freund von Spezialeinheiten zuhause festgenommen und zu 20 Tagen Haft verurteilt. Zuerst wurde ihnen von den Behörden Hooliganismus vorgeworfen, dann Sachbeschädigung wegen eines illegalen Graffitos und dem Übermalen von Plakatwänden. Nach seiner Inhaftierung verlor der 30-jährige Aktivist seinen Job, weil sein Arbeitgeber den Druck der Behörden fürchtete.
„Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Es war wichtig, keine Angst zu zeigen. Unterbewusst denke ich daran, dass ich belauscht und überwacht werde. Am Vorabend der Präsidentschaftswahl 2015 bemerkte ich jeden Tag ein paar Leute, die uns beobachteten. Dennoch will ich das Land nicht verlassen. Sonst wäre es der Sieg der Regierung - sie wollen, dass alle aktiven Menschen Belarus verlassen.“
Roma wurde in Januar 2015 bei der polizeilichen Räumung eines Punk-Konzerts in Minsk festgenommen und zu zehn Tagen Haft verurteilt. Die Behörden wollten ihn zuerst wegen extremistischer Literatur verurteilen, nannten dann jedoch als offiziellen Grund Hooliganismus. Der 23-jährige Punk-Anarchist konnte sich in der Zeit nicht mit seiner Freundin Sasha treffen, die er sehr lange nicht gesehen hatte.
Aleksandr Kurbatski wurde am 26. April 2014 bei der Protestaktion anlässlich des Tschernobyl-Jubiläums in Minsk zu 20 Tagen Gefängnis verurteilt. Während der Zeit verpasste der 32-jährige Fan des Minsker Fußballclubs „Torpedo“ die drei wichtigsten Spiele seiner Lieblingsmannschaft während der Belarussischen Meisterschaft.
Valera wurde 2014 nach einer Protestdemonstration anlässlich des Jubiläums von Tschernobyl wegen "kleinlicher Rowdytums" und "Ungehorsams gegenüber Polizisten" festgenommen und war für 20 Tage im Gefängnis. Ein Freund und er versuchten sich noch in ein nahe gelegenes Restaurant zu flüchten. Doch die Polizisten hatten ein Foto von ihm. Der 23-Jährige studiert an der Belarussischen Staatlichen Universität für Informatik und Radioelektronik und konnte während seiner Haftzeit drei Wochen lang nicht zu seinen Seminaren an der Uni gehen.
"Ich denke, dass die derzeitige politische Autorität den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Und ich glaube nicht, dass die derzeitige selbstverordnete oberflächliche „Demokratisierung“ des Systems irgendwelche wirklichen Veränderungen mit sich bringen wird. Veränderungen müssen von den Menschen initiiert werden, nicht vom Staat."
Lena Nemik wurde am 15. März 2017 bei einer von den Behörden genehmigten Demonstration zum Tschenobyl Jahrestag mit über 50 Teilnehmern verhaftet. Als freiberufliche Illustratorin konnte die 33-Jährige während ihrer Haftzeit von 13 Tagen nicht arbeiten und somit auch kein Geld verdienen. Sie konnte auch ihre Schilddrüsen-Medikamente während der Inhaftierung nicht einnehmen.
"Um ehrlich zu sein, möchte ich nicht, dass sich diese Erfahrung in den nächsten Monaten wiederholt. Das eine Mal mag noch schmerzlos für die Gesundheit, die Arbeit, die Schule oder sonstiges sein. Aber wenn sie sich entscheiden, mich wieder ins Gefängnis zu stecken, dann könnte es umso schädlicher sein, vor allem für die Psyche. Ich würde nicht lautstark von mir behaupten, dass ich vor nichts Angst habe und bis zum Ende durchhalten werde, oder dass ich nichts zu verlieren habe. Aber jetzt habe ich mehr Emotionen, Empathie, einen Sinn für Gemeinschaft und Verständnis für das, was wirklich wichtig ist, und das, was sinnlos ist, was imaginäre Probleme sind."
Arseny Konopljov wurde im Zuge der Demonstrationen gegen ein neues Arbeitsgesetz verhaftet, als er die Metro nahe der Protestkundgebung am 15. März 2017 verließ. Während seiner Haftzeit von 13 Tagen plante der 38-jährige gelernte Handwerker eigentlich das Dach seines Ferienhauses zu isolieren.
"Für ein paar Jahre war es hier ruhig, es gab die Hoffnung, dass alle zur Vernunft kommen würden, dass sich die Situation ändern würde. Nach der Verhaftung hatte ich jedoch ein Gefühl der Unausweichlichkeit."
Marina Nosenko wurde 2017 anlässlich der jährlichen Proteste zum "Tag der Freiheit" in der Nähe ihres Hauses erstmalig präventiv verhaftet, als sie ein Paket für einen inhaftierten Freund, den Boxtrainer Vyacheslav Kosinerov, bei sich hatte. Die 24-jährige Aktivistin verpasste während ihrer 12-tägigen Haftzeit sieben Trainingseinheiten. Die durch das Boxen erlernte mentale Stärke half ihr die Zeit im Gefängnis durchzustehen.
"Früher dachten die Leute, dass nur diejenigen ins Gefängnis kommen, die Regeln brechen, dass es Fremden passiert, die man als Kriminelle betrachten konnte. Doch später wurden auch ihre Söhne, Töchter und sogar Eltern festgenommen. Heute wird dein Nachbar verhaftet - und schon morgen kannst du dich an seiner Stelle befinden".