Albanien

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Drei Tote und hundert Verletzte: Das ist die tragische Bilanz der Demonstrationen vor dem Sitz des Premierministers Sali Berisha am Freitag vergangener Woche in Tirana. Unter den 20.000 friedlich Demonstranten waren offenbar auch gewaltbereite Männer, die Molotow-Cocktails und Pflastersteine auf den Amtssitz des Premiers schleuderten und mit Schlagstöcken auf Polizisten einschlugen. Das albanische Fernsehen strahlte Videos aus, auf denen Gardisten gezielt auf Demonstranten schießen, die versucht hatten auf das Gelände des Amtssitzes des Premiers vorzudringen.

Auslöser für die von der sozialistischen Partei (PS) organisierten Proteste war der Rücktritt des Vizepremiers und Außenministers Ilir Meta (LSI) am 14. Januar, der mit Berisha eine Koalition gebildet hatte. Meta war direkt in eine Schmiergeldaffäre zur Ausbeutung der albanischen Erdölquellen verwickelt. Dieser Rücktritt machte für viele Albaner einmal mehr die Vetternwirtschaft und Korruption in Politik und Wirtschaft deutlich.

Die Polarisierung der politischen Landschaft zwischen den selbsternannten Demokraten Berishas und den Sozialisten, die von Tiranas Oberbürgermeister Edi Rama geführt werden, hatte sich seit den umstrittenen Parlamentswahlen im Juni 2009 extrem zugespitzt. Massendemonstration folgte auf Massendemonstration, doch eine echte Protestkultur entwickelte sich daraus nicht. Viele Demonstrationen waren organisiert und manipuliert: Rama und Berisha, einstige Weggefährten aus der Zeit der friedlichen Revolution 1991 und der Gründungsphase der Demokratischen Partei (PD), instrumentalisierten die Albaner für ihre eigenen politischen Zwecke. Wer nicht auf die Straße ging, konnte seinen Arbeitsplatz verlieren.

Die Ereignisse vom Freitag sind nach Meinung des unabhängigen Journalisten Ardian Vehbiu das tragische Ergebnis mangelnder Kompromissbereitschaft sowie einer „andauernden Seifenoper der albanischen Politik“. Man könne die Ereignisse nicht verstehen, ohne die totalitäre Vergangenheit des Landes zu kennen, die Unterdrückung von Meinungs- und Bewegungsfreiheit in der Zeit des kommunistischen Diktators Enver Hoxha, die sich jetzt gewaltsam Bahn breche. Für Vehbiu „beginnt Gewalt dort, wo die Politik gestorben ist, und in Albanien ist sie schon lange tot“.

Die Angst vor Gewalt und bürgerkriegsartigen Zuständen sitzt bei den Albanern tief. Im Jahr 1997 war das Land nach dem Zusammenbruch spekulativer Finanzgeschäfte schon einmal in Anarchie versunken. 1998 hatten nach dem gewaltsamen Tod des Studentenführers Azem Hajdari Demonstranten vor dem Amtssitz des Premiers gestanden und das Gebäude des Staatsfernsehens besetzt. Damals nutzte Berisha die Proteste für eine erneute Machtübernahme. Keiner der Beteiligten wünscht sich eine Rückkehr dieser Zeiten – vor allem nicht jetzt, nach der Aufhebung der Visabeschränkungen für die Einreise in die Schengenländer, die als ein Schritt in Richtung EU-Mitgliedschaft gesehen werden.
Im Leitartikel der linken „Gazeta Shqip“ greift Kommentator Andrea Stefani die Regierung Berisha scharf an: „Eine Regierung die das Blut unbewaffneter Demonstranten vergießt, mag zaristisch, napoleonisch, kommunistisch oder faschistisch sein, aber niemals demokratisch.“

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft angeordnet, die sechs Gardisten, die für die Schüsse auf Demonstranten verantwortlich gemacht werden, festzunehmen. Die Staatspolizei hingegen weigert sich, diese Anordnung umzusetzen. Unterstützt wird sie dabei von der Demokratischen Partei und Premier Berisha selbst. So wurde den am Freitag eingesetzten Polizisten und Gardisten sogar noch ein zusätzliches und den verwundeten Polizisten ein vierfaches Monatsgehalt zugesprochen.

Aber auch die Fassade von Sozialistenchef Edi Rama, der als gelernter Maler Tirana in zahlreichen Bauprojekten einen „bunten Anstrich“ verlieh, bröckelt. Mittlerweile steht er selbst unter Verdacht Bauaufträge in Tirana selbstherrlich verteilt zu haben. Unmittelbar nach den Ausschreitungen am Freitag hatte er sich demonstrativ auf die Seite der Polizei gestellt. Eine Position von der er sich schnell distanzierte. An einer Beilegung des Konflikts mit seinem Rivalen Berisha scheint er nicht ernsthaft interessiert zu sein. Bis zur Aufklärung der blutigen Ereignisse will seine Partei das Parlament boykottieren. Für den kommenden Freitag hat er zu einer neuen Demonstration im Gedenken an die Opfer aufgerufen. Damit könnte die ohnehin angespannte Lage weiter eskalieren.


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