Polen

Revival des Judentums

Familienalben mit Schwarz-Weiß-Fotos, alte Urkunden und ein Stammbaum liegen auf dem Tisch im Wohnzimmer von Klementyna Wohl. Die 25-Jährige studiert Philosophie an der Warschauer Universität. Ihre Augen funkeln, wenn sie über ihre Vorfahren erzählt. Die Dokumente auf dem Tisch beweisen ihre jüdische Herkunft. Schon immer wusste sie, dass ihr Großvater Jude ist. „Als junger Mann hat er sogar alles gelernt, was ein Rabbi wissen muss“, erzählt die junge Frau.

Geboren wurde er 1911 in dem Örtchen Stanislawowo. Seine Eltern heirateten um das Jahr 1890 nach jüdischer Tradition. Weil kurz darauf die standesamtliche Ehe in Polen Pflicht wurde, wurde ihre Ehe vom polnischen Staat nicht mehr anerkannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde Izrael Wohl von den Russen nach Sibirien verschleppt. Deshalb überlebte er den Holocaust.

Vor einigen Jahren begann Klementyna, auch die andere Seite ihrer Familie zu erforschen. Dabei entdeckte sie, dass der Mädchenname ihrer Großmutter „Lewicki“ lautete. Zunächst vermutete sie, dass es sich um polnischen Adel handelte. Doch Klementyna informierte sich bei der jüdischen Gemeinde und erfuhr, dass jeder in Polen lebende Lewicki von der Familie Lewich abstammt, also Jude ist. Der Name leitet sich vom hebräischen „Levi“ ab, einem der zwölf Stämme Israels.

Aufgrund ihrer Familiendokumente wrude Klementyna in die jüdische Gemeinde in Warschau aufgenommen. „Die Liebe zur, das Interesse an der Vergangenheit ihrer Familie und der Glaube“ hätten sie hierher gebracht, sagt Klementyna. Die Studentin versucht zusammen mit den anderen Gemeindemitgliedern, die jüdische Tradition, die in Polen nahezu ausgestorben ist, wieder herzustellen.

Die Warschauer Gemeinde entwickelt sich. Die Zahl der Mitglieder wächst. Die meisten sind Polen, die vom Land in die Großstadt gezogen sind. Doch immer mehr Mitglieder und auch Geldgeber kommen mittlerweile auch aus dem Ausland. Lange gab es nur orthodoxe Rabbiner in der Gemeinde, inzwischen werden auch andere Richtungen aktiv.

Den progressiven Kreis der Gemeinde, dem Klementyna angehört, koordiniert Michal Kleiman, der vor drei Jahren eine Reform-Synagoge in Warschau mitbegründet hat. Alles begann mit einem gemeinsamen Abendessen. Kleiman erzählt, dass die Abende in der Gemeinde für alle gedacht sind: Für Mitglieder der Gemeinde, für alle, die es werden wollen und selbst für diejenigen, die sich in den Hauptströmungen des Judentums nicht wieder finden. Diese Neuerung verursachte am Anfang Konflikte.

Klementyna präsentiert dabei eine moderne Art des Denkens. „Konflikte in einer kleinen Gemeinschaft sind unvermeidlich, besonders wenn es Umbrüche gibt und die Machtverhältnisse sich ändern.“ Ihrer Meinung nach waren die Veränderungen jedoch notwendig, nicht nur weil man für andere offen sein sollte, sondern „vor allem, weil das orthodoxe Judentum in Polen absurd ist“. Zwar hat etwa jeder dritte Pole jüdische Wurzeln. Doch nach den jüdischen Vorschriften muss die Mutter jüdischer Herkunft sein, und dies können nur die wenigsten nachweisen.

Polen brauche ein reformiertes Judentum, meint Klementyna. Die Mitglieder der Gemeinde und der Reformrabbi arbeiten freiwillig. Es werden Ausbildungskurse und Schulungen organisiert, für alle, die der Gemeinde beitreten wollen. „Praktisch jeden Tag finden in der Gemeinde Vorlesungen über das Judentum und die jüdische Geschichte statt“, sagt Kleiman. Es gibt auch Integrationsreisen und internationale Austauschprogramme mit Juden aus ganz Europa, den USA und Israel. Daran nimmt auch Klementyna teil. Die junge Frau war bereits in Serbien, wo das junge jüdische Leben genauso wie in Polen wieder erblüht. Die Reisen werden von der EUJS (European Union of Jewish Students) organisiert.

Michal und Klementyna beobachten, dass das Interesse an ihrer Gemeinde wächst. „Die Polen suchen nach neuen Wegen und Religionen und finden das moderne großstädtische Judentum attraktiv“, sagt Klementyna. Gerade in Großstädten wie dem boomenden Warschau mit seinem großen Anteil an ausländischen Arbeitskräften aus ganz Europa sei das multikulturelle Leben allgegenwärtig. Und es gebe immer mehr Interesse an der jahrhundertealten jüdischen Tradition, Kultur und Geschichte in Polen.

Klementyna versteht noch kein Hebräisch. Doch das sei nicht so wichtig. Was zurzeit am meisten zähle, sei das Zugehörigkeitsgefühl: Die Treffen, Vorträge und Konzerte mit zeitgenössischer jüdischer Musik, sowie das Bewusstsein für gemeinsame Wurzeln.


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