Estland

Das Erbe der „Bronzenacht“

In der Nacht auf den 27. April 2007 ziehen Jugendliche randalierend durch die estnische Hauptstadt Tallinn. Sie plündern Läden, greifen Polizisten an. Ein junger Mann stirbt an Stichwunden. Jugendliche ziehen Die materiellen Schäden werden auf bis zu 30 Millionen Estnische Kronen (ca. 2 Millionen Euro) geschätzt, einen Großteil der Verluste ersetzt die Regierung Geschäftsleuten. „Eine sehr günstige Lehrstunde“, schreibt der Journalist Ainar Ruussaar im Rückblick.

In der Tat: Die Sachschäden machen nicht die Bedeutung der sogenannten „Bronzenacht“ aus. Vielmehr wurde die Öffentlichkeit auf den Riss aufmerksam, der sich knapp 16 Jahre nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit durch die Gesellschaft der ehemaligen Sowjetrepublik zog. Entzündet hatten sich die Unruhen an der Versetzung eines 1947 errichteten Kriegsdenkmals. Der sogenannte Bronzesoldat, auch „Aljoscha“ genannt, steht für einige Esten für die Befreiung Tallinns von den nationalsozialistischen Besatzern im Jahr 1944. Für viele symbolisierte das Denkmal aber etwas ganz anderes: Eine neuerliche Besatzung, diesmal durch die Sowjetunion, mit der die deutsche lediglich abgelöst wurde.

Dieser Streit um die Interpretation der Nachkriegsgeschichte ging einher mit einem weiteren Riss durch die Gesellschaft: der missglückten Integration der russischsprachigen Minderheit nach 1991. Von den nur etwa 1,3 Millionen Einwohnern Estlands werden rund 300.000 zu dieser Gruppe gezählt, neben Russen auch Ukrainer oder Weißrussen, die größtenteils zu sowjetischen Zeiten zuzogen. Nach 1991 machte sich unter ihnen rasch Enttäuschung breit: über eine Politik, die ihnen nicht automatisch die Staatsbürgerschaft zuerkannte und Estnisch zur alleinigen Amtssprache machte. Ohne estnische Sprachkenntnisse wiederum waren Angehörige der Minderheit in überdurchschnittlichem Maß von Arbeitslosigkeit betroffen.

In der estnischen Hauptstadt Tallinn stellt die russischsprachige Gruppe etwa die Hälfte der Bevölkerung von rund 400.000. Einige von ihnen legen auch fünf Jahre nach der Versetzung Blumen vor Aljoscha nieder, der auf einen Friedhof am Stadtrand verbannt wurde. In der mittelalterlichen Altstadt Tallinns ist dagegen von dem bevorstehenden Jahrestag nichts zu spüren.

Ein kompaktes, größtenteils russisches Sprachgebiet stellt im Gegensatz zu Tallinn der Nordosten des Landes mit Städten wie Narva, dem Grenzort zu Russland, dar. Die dreistündige Busfahrt von Tallinn nach Narva empfinden viele daher auch wie eine Reise ins Ausland: Die Stadt sei „ein dunkler Fleck“, warnen Esten in Tallinn. Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit: In Narva erzählt eine ältere Russin auf der Straße, die Jugend würde „nach Estland“ auswandern – gemeint sind Tallinn und das südestnische Tartu.

Und doch lassen sich auf einer Reise von Tallinn nach Narva im Frühjahr 2012 auch Zeichen entdecken, die auf eine Entspannung der Beziehungen hindeuten. „Das Denken in Stereotypen beginnt sich langsam zu ändern“, weiß etwa Jaanus Mikk zu berichten. Der ehemalige Tallinner ist einer von nur rund 2.500 Esten in Narva – bei insgesamt über 65.000 Einwohnern. Im Auftrag schwedischer Investoren will er einen neuen Stadtteil auf dem Gelände einer stillgelegten Textilfabrik entwickeln. Damit hofft er gleichzeitig auf einen Aufschwung für die Stadt. Diesen könnten ausgerechnet die östlichen Nachbarn bringen: sollte das strenge Grenzregime eines Tages wegfallen, könnte Narva zum touristischen Ziel für Millionen Russen aus dem nur zwei Autostunden entfernten St. Petersburg bringen.

„Dass die russische Bevölkerung hier lebt, ist eine historische Unabänderlichkeit“ ruft Mikk seine Landsleute zu einer Aussöhnung mit der Geschichte auf. „Man sollte nicht vergessen, was geschehen ist, aber man kann auch nicht bis ans Lebensende mit geballter Faust in der Tasche herumlaufen.“

Entspannung in den Beziehungen – das ist auch die Forderung der Autoren einer jüngst veröffentlichten soziologischen Studie über die Integration der russischsprachigen Minderheit. Auch aus ganz pragmatischen Gründen: die estnische Gesellschaft altert, und so sei es notwendig, um junge Arbeitskräfte zu werben, unabhängig von ihrer Muttersprache.


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