Russlands vergessene Waisen
Manchmal trifft es Kinder wie Wanja. Abstehende Ohren, wacher Blick. Ständig eine Frage auf den Lippen. Wanja, der Dreijährige, ein Gefängniskind. Seine Mutter sitzt immer noch in der Strafkolonie. Warum, weiß der neugierige Junge nicht. Das wissen nicht einmal seine jetzigen Betreuer, in den Unterlagen wird das nicht vermerkt. Nur ein Strafparagraf steht da, er lässt auf Drogen schließen.
Die Mutter schickt Briefe, jede Woche, einen mindestens. Es überrascht alle im Waisenheim, nur Wanja nicht. Er wartet auf sie. Wie lange? Auch das steht nicht in den Unterlagen. Das Sorgerecht hat die Frau am dritten Geburtstag ihres Sohnes verloren – weil sie in der Kolonie sitzt. So will es ein russisches Gesetz.
Es trifft auch Kinder wie Walera, 14 Jahre, einen so genannten „Wegläufer“. Die Mutter starb, da war er zehn und wurde vom Stiefvater auf die Straße gesetzt. Walera verstand gar nichts mehr, vor allem nicht, warum seine Halbschwester in der Wohnung bleiben konnte, für ihn die Tür aber verschlossen blieb. „Ein Hooligan“, schimpfte der Stiefvater. Walera klopfte trotzdem immer wieder zuhause an, er wollte in sein altes Zimmer zurück – und landete stets wieder im Heim.
20 Vollwaisen, 20 Hyperaktive, 23 adoptierte und wieder abgegebene Kinder
104 Kinder leben hier, am Rande von Schelesnodoroschny, der „Eisenbahnstadt“ nahe Moskau. Fast 700.000 Waisen gibt es im ganzen Land, die meisten von ihnen Sozialwaisen.
Natalja Kuryschowa redet ohne Punkt und Komma. Es sind ihre Schützlinge, Kinder, die niemand mehr wollte, Mädchen und Jungen, die aus den Familien gerissen wurden, weil der Staat es für ihr Bestes hielt, Heranwachsende ohne Eltern. Sie kennt ihre Namen, ihre Geschichten. Soweit sie eben zu erfahren sind, in den Unterlagen stehen oder wenn die Kinder sie erzählen. Sie ist „Mama“ für sie, so nennen fast alle der Heimkinder die energische Frau von etwa 1,50 Meter Größe. Nur Wanja nicht.
Eigentlich ist Kuryschowa Direktorin im Saltykow-Kinderheim in „Scheleska“ (Eisenstück), wie die Bewohner ihr Städtchen nennen. Lenins Ehefrau hatte das Heim noch im Jahr 1918 ins Leben gerufen, damals, als nach dem Bürgerkrieg viele Kinder auf der Straße landeten. Die Hauptstadt ist nicht weit, 30 Kilometer nur. Eigentlich liegt der Ort im Moskauer Speckgürtel, sieht mit seinen kaputten Straßen, grauen Plattenbauten und billigen Supermarktketten aber aus wie tiefste Provinz.
Eine geschlossene Welt
Früher stand das Heim ganz abseits, nun rückt die Stadt immer näher, Hochhäuser entstehen gleich nebenan. Hohe Mauern umgeben das rote Backsteingebäude. Am schwarzen Eisentor stehen Wachmänner. Kuryschowa ist seit den 1990ern hier, als einfache Erzieherin hatte sie angefangen. „Unsere Gesellschaft ist noch nicht so weit, Waisen als vollwertige Mitglieder zu akzeptieren“, sagt sie.
„Es müsste sich so vieles ändern. An diesem System, an der Wahrnehmung, an der Ausstattung.“ Kleinere Häuser wünscht sie sich, eine persönlichere Atmosphäre, eine Art Kleinfamilie für jedes Mädchen, jeden Jungen.
20 Vollwaisen, 20 Hyperaktive, 23 bereits adoptierte und wieder abgegebene Kinder wohnen hier auf drei Etagen. Lange Gänge, Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsräume. Fünf Gruppen bis zu zehn Kindern sind eine Einheit. Der Tag ist streng gegliedert. An der Wand hängen „Verhaltensregeln“: Jeder soll jeden achten. Die Mädchen haben bescheiden zu sein, die Jungen stark. Das Heim nimmt Kinder ab drei Jahren auf. Manche bleiben, bis sie 21 sind und längst studieren. Behindert ist niemand von ihnen.
Rund 2.000 Waisenheime gibt es in Russland, die im Russischen „Detdom“ (Kinderhaus) heißen und einen negativen Klang haben. Bis zu 65.000 Rubel gibt der Staat pro Heimkind im Monat aus. Das sind umgerechnet etwa 1.600 Euro.
„Die Kinderheime sind interessiert daran, viele Kinder in ihrer Einrichtung zu haben. Dann gibt es auch mehr Geld“, sagt Anatoli Balan. Der 26-Jährige Jurist will Pflegevater werden. Einst hatte ihn ein Freund mit in ein Waisenheim genommen. „Es ist eine geschlossene Welt“, sagt Balan. Eine, die den jungen Mann schockierte. „Die Kinder dort rochen nicht gut, sie waren ärmlich angezogen, niemand hatte etwas Eigenes nur für sich.“
In die USA dürfen die Kinder nun nicht mehr
Seit zwei Jahren engagiert sich Anatoli als Freiwilliger bei der Wohltätigkeitsorganisation „Hilfe für Waisenkinder“. Der Verein kümmert sich um Beratungen für angehende Adoptiveltern, sucht mit Bildern auf der Homepage Mütter und Väter für die Heimkinder, sammelt Geld für Spielzeug, für Nachhilfestunden oder für die medizinische Behandlung der Kinder.
Im Heim hängen Fotos ehemaliger Heimkinder: Julia berichtet von ihrem Leben in Moskau, Andrej hat Bilder von seinem College-Abschluss in den USA geschickt, Preston eine Weihnachtskarte aus seinem amerikanischen Zuhause. Im Heim hatte er noch Ilja geheißen. Für einen anderen Ilja geht es dieser Tage nach Italien. Ein Fotoalbum haben der Achtjährige und sein siebenjähriger Bruder Sascha von den neuen Eltern bekommen. „Buon giorno“ sagen die Kleinen lächelnd und fragen jeden Tag mehrmals: „Wann können wir endlich los?“ Für Direktorin Natalja Kuryschowa ist das stets ein freudiger und ein trauriger Anblick zugleich. „Die anderen Kinder bleiben mit der Frage zurück: Und wann kommt jemand zu uns?“
Doch Russland verschließt vor allem fürs Ausland immer mehr die Tore seiner Kinderheime. Seit Anfang des Jahres dürfen Amerikaner keine russischen Kinder mehr adoptieren. Die Regelung geht auf ein umstrittenes Gesetz zurück und ist die Revanche für ein amerikanisches Gesetz, russischen Beamten, die in den Tod eines Anwalts involviert waren, die Einreise in die USA zu verweigern. Das Anti-Adoptionsgesetz soll nach und nach auf andere Länder ausgeweitet werden. Direktorin Kuryschowa kann das nicht verstehen. „Es ist egal, wo die Kinder aufwachsen, in Amerika, Europa, hier bei uns. Hauptsache, sie haben eine echte Familie, eine, die für sie da ist, die ihnen Halt gibt.“
Auf den Gängen füttern die Kleinen Fische und Wellensittiche, im Werkzimmer malen einige Mädchen die Kirche in der Ferne, sticken. Manche machen Hausaufgaben im Aufenthaltsraum. „Es ist wie ein riesiges Pionierheim hier“, sagt die Direktorin, und fügt hinzu: „ein Heim mit Fehlern im System“.