Lettland

Zuwachs aus Moskau

Anfang November hat das lettische Nachrichtenmagazin „De facto“ mit einer
Sensation aufgemacht. Die kremlkritische Journalistin Galina Timchenko ist nach Riga gezogen, um von Lettland aus über Russland zu berichten – unzensiert. Nach kritischer Berichterstattung über Moskaus Einmischung auf der Krim war sie im März als Chefredakteurin des Portals lenta.ru gefeuert worden. Nun hat sie in Riga ihr eigenes Nachrichtenportal gestartet. 16 russische Redakteure sind ihr gefolgt und bauen das Projekt mit auf.

Die Journalistenkollegen in Lettland sind froh über den Zuwachs aus Moskau. Bislang seien Oppositionelle und Andersdenkende eher in die Nachbarländer gegangen, sagt die lettische Fernsehjournalistin Olga Dragilieva. „Litauen gewährt Dissidenten aus Weißrussland Asyl, Estland nimmt hin und wieder Leute aus Russland auf – ich empfand es als beschämend, dass Lettland bisher kein Ziel gewesen ist.“ Endlich hätten Kollegen wie Galina Timchenko Lettland entdeckt und Riga sogar Berlin vorgezogen.

Im dritten Stock eines restaurierten Speicherhauses hat die Russin Timchenko ihre Redaktion eingerichtet: Mit ihren 16 Moskauer Kollegen sitzt sie in einem lichtdurchfluteten Raum. Zwei weitere Reporter arbeiten dem Team aus Russland und der Ukraine zu. Timchenko mustert die Aufmacher ihrer neuen Nachrichtensite „Meduza.io“. „Überleben etwa nur die Reichen?“ lautet eine Titelzeile, im Text berichtet die Herausgeberin ausführlich über die ersten sozialen Proteste in Moskau seit 2005. Wer die Nachrichenseite finanziert, will Timchenko nicht verraten, um die Geldgeber zu schützen.


Letten profitieren vom Zuzug

Es ginge der Redaktion darum, das zu berichten, was wirklich wichtig sei, sagt Timchenko. „Niemand erklärt, dass der russische Rentenfonds eingefroren wurde und allein in Moskau jedes zweite Krankenhaus dicht gemacht wird“, sagt die Journalistin. Stattdessen werde in Kreml-nahen Medien ein Standardprogramm abgespult: „Viermal täglich Berichte über die Ukraine, zweimal über Vladimir Putin und einmal über Kultur.“ In Lettland hofft Timchenko nun, weiter kritischen Journalismus machen zu können.

Ausschlaggebend für ihre Länderwahl sei die liberale lettische Gesetzgebung gewesen, erklärt sie. Zudem gehört Lettland zu den Ländern mit dem schnellsten Internet weltweit – und verfügt über eine große russische Minderheit in der Bevölkerung. „Wir Journalisten können mit den Leuten russisch sprechen und verstehen, was um uns herum passiert“, erläutert Timchenko die Vorzüge.

Und auch die Letten profitieren vom Zuzug der russischen Redaktion. „Er sendet ein deutliches Signal, dass Lettland ein demokratischer Rechtsstaat ist“, sagt Ainars Dimants. Er leitet den Lettischen Rundfunkrat und überwacht die hiesige Medienlandschaft. Im Sommer hatte Dimants für drei Monate die Ausstrahlung des russischen Staatsfernsehens in Lettland verboten. Wegen der Kriegshetze, die dort laufe, sagt er. „Wir müssen die Propaganda des Kremls neutralisieren.“


Vorurteile abbauen

 Verbote seien allerdings nicht optimal. „Besser ist eine alternative Informationsquelle zu den russischen Staatsmedien“, sagt Dimants und verweist auf Timchenkos Website. Dieses neue Nachrichtenportal habe außerdem einen weiteren Vorteil, ist sich Dimants sicher: Die lettischen Russen würden sehen, dass es in Russland nicht nur die Anhänger Putins gibt, sondern auch Journalisten, die eine andere Meinung vertreten.

Olga Procevska gehört zu dieser russischen Minderheit. Sie liest täglich auf der Website Meduza.io. Die Umsiedlung der Redaktion von Moskau nach Riga könne sogar mit den Vorurteilen der lettischen Nationalisten aufräumen, sagt sie. „Für die Nationalisten sind nämlich Russen, die nach Lettland umsiedeln, allesamt Agenten Putins“, so Procevska. Sie hofft, dass sich durch den Zuzug kritischer Journalisten die Vorurteile abbauen ließen, die zwischen Letten und der russischen Minderheit im Land existieren.


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