Ukraine

Große Koalition in Kiew?

37 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, die Abgeordneten für die Werchowna Rada, das Parlament, und die Dorf- und Stadtverwaltungen zu wählen. Auf dem Wahlzettel für die Parlamentswahl standen in ukrainischer Sprache 45 Parteien und Wahlblöcke. Einige ältere russische Wähler auf der Krim empfanden das als Zumutung. „Ich kann kein Ukrainisch“, meinte eine ältere Wählerin in schwarzen Pelzmantel gegenüber dem russischen Fersenehekanal NTW, „mir muss jemand den Wahlzettel vorlesen.“ Beobachter rechnen damit, dass nur sieben Parteien den Sprung über die Drei-Prozent-Hürde schaffen.

Wählen mit der Familie

Der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko hatte seine gesamt Familie mit ins Wahllokal gebracht. Er lächelte, als er den langen Wahlzettel in die Urne schob. In den vergangenen Monaten hatte Juschtschenko meist ein ernstes Gesicht gemacht. Der Präsident hat viele Sorgen. Das orangene Lager hatte sich gespalten, das Wirtschaftswachstum war von zwölf auf drei Prozent gefallen. Immerhin: Die Wahlen seien eine Bestätigung „der ukrainischen Demokratie“, erklärte Juschtschenko.

Er erinnerte, dass es bei den Präsidentschaftswahlen vor 14 Monaten, „als man uns auf die Knie zwingen wollte“, nicht wichtig gewesen war, „wie gewählt wurde, sondern wie die Stimmen gezählt wurden.“ Nach den Meinungsumfragen vor der Wahl schafft es weder Juschtschenko´s Partei „Unsere Ukraine“ noch die „Partei der Regionen“ seines ostukrainischen Widersachers Viktor Janukowitsch alleine die neue Regierung zu bilden. Deshalb munkeln Beobachter seit Tagen von einer Koalition zwischen Orange (Juschtschenko) und Blau (Janukowitsch).
Eigentlich möchte Juschtschenko eine Koalition mit der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Doch die verlangt, dass der Präsident sich von einigen ihrer Meinung nach korrupten Männern in der Präsidialverwaltung trennt. Außerdem soll das russisch-ukrainische Gas-Abkommen vom Januar neu verhandelt werden, alles Bedingungen, auf die Juschtschenko nicht eingehen wird.


Umfragergebnisse vor der Wahl

„Partei der Regionen“ (Viktor Janukowitsch) 25-30 % „Unsere Ukraine“ (Viktor Juschtschenko) 12-20% „Block Julia Timoschenko“ 12-20% Die Sozialisten (Oleksandr Moros), Kommunisten (Petro
Simonenko) und das „Volksbündnis Lytwin“ (Parlamentspräsident Wolodymyr
Lytwin) bekamen in den Umfragen drei bis neun Prozent. 

Bei folgenden Wahlblöcken ist unsicher, ob sie die Drei-Prozent-Hürde überspringen: Wahlblock „Pora-PRP“ (Vitalij Klitschko), Wahlblock „So nicht!“ (Ex-Präsident Leonid Krawtschuk), Wahlblock „Volksopposition“ (Natalja Witrenko, Sozialistin).


Blau-Orange aus Pragmatismus

Völlig neu wäre ein Bündnis aus Blau und Orange nicht. Nach dem Juschtschenko im Herbst Julia Timoschenko als Ministerpräsidentin entlassen hatte, versuchte er seinen Vertrauensmann Juri Jechanurow im Parlament als Ministerpräsidenten durchzubringen. Bei der ersten Abstimmung fiel Jechanurow durch. Erst nachdem Juschtschenko mit Janukowitsch ein „Memorandum zur Zusammenarbeit“ unterzeichnet hatte, bestätigte das Parlament Juschtschenko´s Wunschkandidaten.

Nach dem Verlassen der Wahlkabine erklärte Juschtschenko, dessen Gesicht sich immer noch nicht von dem mysteriösen Giftanschlag erholt hat, „die Ukraine braucht eine Konsolidierung.“ In seiner Fernsehansprache vor der Wahl hatte der Präsident erklärt, eine Koalition müssen sich um „strategische Ziele, und nicht um egoistische Interessen“ bilden. Beobachter werteten dies als Seitenhieb auf Julia Timoschenko. Die Ikone der Revolution, hatte in ihrem Hang zum Populismus behauptet, ein Bündnis von Juschtschenko und Janukowitsch sei wie wenn sich Al Kaida und die Republikaner in den USA zusammentun.

Eins steht auf jeden Fall fest: Unter den Orangenen gibt es einen Geschwisterkampf. In den Umfragen vor der Wahl lagen der Block von Julia Timoschenko und „Unsere Ukraine“, die Partei von Juschtschenko, etwa gleich zwischen 12 und 20 Prozent. Andrej Jermolajew, Direktor des Kiewer Zentrums für soziale Forschungen, meinte gegenüber der Internetzeitung gaseta.ru, ein Bündnis zwischen Juschtschenko und Janukowitsch sei „wahrscheinlich ein zeitlich begrenztes Bündnis, dass bis zum Herbst oder höchstens bis zum Frühling hält“. Geführt werde die orange-blaue Koalition vermutlich von einem Kompromisskandidaten.

Viktor Janukowitsch wünscht sich auf dem Posten des Ministerpräsidenten Niemand geringeren als Rinat Achmetow, seinen Finanzier. Achmetow ist der reichste Mann der Ukraine. Ihm gehört ein großer Teil der Industrie im Osten des Landes. Ein Hauptziel einer blau-orangenen Koalition ist nach Meinung von Beobachtern eine Neuverhandlung des russisch-ukrainischen Gas-Abkommens, welches die Ertragslage der ukrainischen Großbetreibe belastet. Außenpolitisch würde eine ukrainische „große Koalition“ keinen grundlegenden Wechsel bringen. Viktor Janukowitsch legte zwar besonderen Wert auf gute Beziehungen zu Russland, aber er will auch zum Westen gute Kontakte. Während seiner Amtszeit als Ministerpräsident fuhr er sehr häufig nach Westeuropa.


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