Baikal-Umweltschützer gegen Pipeline
Irkutsk (n-ost) - Das kleine Seehund-Weibchen saust die Glasscheibe des Aquariums entlang, richtet sich kerzengerade auf und schnappt nach Luft. Dann senkt die Robbe mit dem grauen Fell den Kopf, guckt auf die Zuschauer und wischt sich mit der Flosse übers Gesicht. Dabei klappen ihre Augen zu, so als wolle die Kleine sagen, „Ihr wisst gar nicht, wie eng es hier ist.“
Das Aquarium im Baikal-Museum, in dem der kleine Seehund zusammen mit seiner Mutter lebt, befindet sich in der Nähe des Touristen-Ortes Listwjanka, nur 100 Meter vom Baikal-See entfernt. Dieser ist gewaltige 630 Kilometer lang und 50 Kilometer breit und bietet etwa 80.000 Baikal-Robben Lebensraum. Die Mutter des kleinen Seehund-Weibchens fand man auf dem Eis des Baikal mit einer Schusswunde im Rücken. Dies wurde genäht. Während ihr Junges aufgeregt durchs Becken rast, liegt die Mutter meist faul mit geschlossenen Augen am Beckenboden.
Erst ein Papierkombinat, jetzt eine Pipeline
Der Baikal-See speichert ein Fünftel des weltweit vorhandenen Trinkwassers und ist die Heimat vieler Tiere und Pflanzen, die man nur in dieser Region findet. Dazu gehört neben der die Süßwasser-Robbe auch der Golomjanka, ein lebendgebärender Fisch, der die kalten Tiefen des Baikal liebt. Den kleinen Fisch kann man im Aquarium des Museums genauso bewundern, wie seine großen Artgenossen, den Omul, den Charius und den Linok.
Noch ist der eineinhalb Kilometer tiefe See weitgehend unverschmutzt. Doch der Baikal, den die UNESCO auf Initiative russischer Umweltschützer 1996 zum Weltkulturerbe erklärte, ist in Gefahr:
1966 wurde im Süden des Baikal ein Papierkombinat in Betrieb genommen. Obwohl es nach den damals gültigen Gesetzen schon 1992 seinen Betrieb einstellen sollte, produziert es noch heute und verschmutzt den Südteil des Baikal-Sees mit seinen Abwässern. Die Zellulose wird im Chlorbleichverfahren hergestellt. Dabei werden Dioxine, Phenole und Chlorverbindungen frei. Jetzt droht dem einzigartigen See eine weitere Gefahr. Der russische Pipeline-Konzern Transneft plant eine Öl-Pipeline von Sibirien nach China. Die Energieader soll im Abstand von 800 Metern am Nord-Ufer des Baikal vorbeiführen.
Die Vermessungsarbeiten am See haben bereits begonnen. „Es werden schon Schneisen in den Wald geschlagen“, berichtet Jenny Sutton, von der Umweltorganisation Baikal-Welle in Irkutsk. Um die Baukosten des Zwölf-Milliarden-Projekts nicht weiter in die Höhe zu treiben, will man offensichtlich die Trasse der Baikal-Amur-Bahn nutzen, die sich am Nord-Rand des Sees durch bis zu 17 Kilometer lange Tunnel gräbt.
Eine Nord-Route, die das Wasser-Einzugsgebiet des Baikal-Sees weiträumig umgangen hätte, wurde verworfen. Diese Route würde die Pipeline zum „Verlustprojekt“ machen, erklärte Sergej Grigorjew, stellvertretender Transneft-Chef gegenüber dem Magazin „Kommersant-Wlast“. Schon jetzt befinde sich das Projekt „an der Grenze der Rentabilität“. Von der Öko-Bewegung fordert er „mehr Verantwortungsbewusstsein“. Dabei hatte sich sogar Putins Sibirien-Beauftragter, General Anatoli Kwaschnin gegen die Trassenführung am See ausgesprochen. Der General, der den zweiten Tschetschenien-Krieg leitete, weiß um die Stimmung der selbstbewussten „Sibirjaken“, von denen viele Abkömmlinge Verbannter sind und die ihren See wie ein Heiligtum verehren.
Schornsteine stürzten in sich zusammen
„Wir brauchen hier keine Öl-Pipeline“, meint Tatjana, die im Dorf Listwjanka, am Ufer des großen Sees, an der Luft getrocknete und geräucherte Sik-Fische an Touristen verkauft. „Der Baikal ernährt uns. Wir leben hier vom Tourismus“, meint die Hausfrau, die sich als Fischhändlerin Geld dazu verdient. „Wenn nur ein bisschen Öl ausläuft, ist unser See hin.“ Sie verstehe nicht, warum man gerade hier eine Pipeline baue, wo es doch täglich zu kleinen Erdstößen kommt, die immerhin so stark sind, dass das Geschirr klappert.
„Ich hatte Angst, dass mein Haus zusammenbricht. Die Balken krachten und alles, was an den Wänden hing, bewegte sich wie ein Uhrpendel.“ Mit diesen Worten beschrieb der deutsche Forscher Daniil Messerschmidt, der zehn Jahre am Baikal lebte, das Erdbeben vom 1. Febraur 1725. Das letzte große Beben mit der Stärke elf wurde im Jahr 1957 registriert. Die Chroniken der Wissenschaftler berichten, dass Schlafende aus den Betten geschleudert wurden, dass es Paniken gab, Schornsteine in sich zusammenfielen, Kreuze von den Kirch-Dächern fielen, Quellen versiegten und neue entstanden. In vielen Gebäuden waren nach den Beben Risse zu sehen.
Waleri Imajew, Professor für Seismologie am Institut zur Erforschung der Erdkruste in Irkutsk, hat die Erdbeben der vergangenen Jahrhunderte erforscht. Auf seinem Computerbildschirm präsentiert er Luftaufnahmen der Bergreliefs um den Nordteil des Sees. Deutlich sind die Abschürfungen zu erkennen. Sie stammten von großen Gesteins-Verschiebungen, erklärt der Forscher, der in den 70er Jahren am Bau der Baikal-Amur-Eisenbahn beteiligt war. Der Nordbereich des Baikal liegt – so Imajew - mitten in einem Erdbebengebiet. „Am Baikal stoßen die indische und die eurasische Platte zusammen.“ Seit 26 Millionen Jahren bewegen sich die Kontinentalplatten aufeinander zu. Während die Platten vor 26 Millionen Jahren im Tempo von 25 Zentimeter pro Jahr zusammenprallten, hat sich die Geschwindigkeit heute auf fünf Millimeter im Jahr vermindert.
Umweltbewusste Sibirjaken
Wer denkt, die Russen kümmerten sich vor allem um ihre sozialen Probleme wird in Irkutsk –einer Industriestadt mit 600.000 Einwohnern - eines Besseren belehrt. Man hat den Eindruck, die Pipeline werde direkt durch die Gärten der Leute verlegt, so aufgebracht ist die Stimmung. Jeden Sommer wälzen sich Autokolonnen mit urlaubshungrigen Städtern auf dem „Baikalskij-Trakt“ Richtung See. An dem großen See findet sich alles, was man zur Erholung braucht, sauberes Wasser und saubere Luft, ein Panorama mit schneebedeckten Berggipfeln und erholsame Stille. Die Urlauber leben in Zelten oder quartieren sich in den Holzhütten entlang des Sees ein. Hotelburgen gibt es bisher nicht.
Auf Information und Aufklärung über seine Pläne hat das Ölunternehmen Transneft bisher verzichtet. Offenbar hoffte man, das sensible Projekt ohne öffentliche Diskussion durchziehen zu können. Doch es kam anders. Am 18. März demonstrierten in Irkutsk 4.500 Menschen für eine andere Trassenführung. Zu einer zweiten Demonstration am 9. April kamen 5.500 Menschen. Gala Sibirjakowa von der „Baikal-Bewegung“ erzählt stolz, dass es solch große Demonstrationen in Irkutsk seit dem Putsch gegen Gorbatschow in Moskau 1991 nicht mehr gegeben hat.
An der den Demonstrationen beteiligten sich Vertreter aller Parteien. An der ersten Demonstration nahmen sogar 200 Mitglieder der Kreml-Partei „Einiges Russland“ teil. Auf der Rednertribüne sprachen der Gouverneur und der Parlamentsvorsitzende des Gebiets Irkutsk. Die Hälfte der Abgeordneten ist gegen eine Trassenführung entlang des Sees.
Auf der zweiten Demonstration war die Stimmung emotionaler als auf der ersten. Die Menschen riefen „Nieder mit Trans-Tod“.
Der Schamane Walentin Chagdajew von der Baikal-Insel Olchon versprach den Versammelten magische Kraft. Der „heilige See“ dürfe nicht gefährdet werden. Ein Sprecher drohte, wenn die Bauarbeiten begännen, werde man sich „vor die Bulldozer legen“.
Die Fernsehkanäle in Moskau haben bisher nicht über die Proteste berichtet. „Die haben eine Anweisung von oben bekommen“, vermutet Waleri Lukin, stellvertretender Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes im Gebiet Irkutsk. Lukin ist einer der führenden Köpfe der „Baikal-Bewegung“. Er fürchtet, dass sich der Pipeline-Bau und mögliche Öl-Leckagen negativ auf den Tourismus auswirken. Im Kreml fürchtet man, dass das Beispiel der Sibirjaken Schule macht. Russland hat wegen des weltweiten Energiehungers noch mehrere Pipelines in Planung. Doch es scheint, dass die Pipeline-Bauer die Umweltschützer in Zukunft in ihre Pläne mit einbeziehen müssen.
Hintergrund:
Sibirisches Öl für China
Mit einer 4.200 km langen Ost-West-Pipeline sollen jährlich 80 Millionen Tonnen sibirisches Öl von Tajschet (Gebiet Irkutsk) bis nach Skoworodino (Grenzgebiet China) und weiter bis zum Pazifik-Hafen Nachodka gepumpt werden. Über einen Abzweig von Skoworodino sollen jährlich 30 Millionen Tonnen Öl ins nordchinesische Dazin fließen. Das Pipeline-Projekt nach China geht ausgerechnet auf einen Plan des vom Staat zerschlagenen Ölkonzerns Yukos zurück. Mit dem Bau der Pipeline will man in diesem Sommer beginnen. Bis 2008 soll man das Teilstück bis zur chinesischen Grenze fertig sein.
Bei der von den Umweltschützern geforderten weiträumigen Umgehung der Baikal-Region würden 900 Millionen Dollar Mehrkosten anfallen. Nach der jetzigen Planung kostet die Sibirien-Pipeline bereits 12 Milliarden Dollar.
Die Umweltschützer befürchten dass bei einem Defekt an der Pipeline innerhalb von 20 Minuten 3000 Tonnen Öl auslaufen. Der Nordteil des Baikal-See würde dann von einem Ölfilm bedeckt.
Vertreter von Transneft versprechen hohe Sicherheitsstandards für die Energie-Ader. Selbst im Fall eines Unglücks könnten nicht mehr als 100 kg Öl auslaufen, heißt es. Für die Pipeline verwende man besonders dicke Stahlrohre mit „plastischen Eigenschaften“. Selbst im Falle eines Defekts werde die Stahlwand nicht vollständig zerstört. Öl könne praktisch nicht auslaufen.
Die Ökologen kritisieren, dass der Kreml bei der Erstellung des staatlichen Gutachtens Druck auf die Experten ausgeübt hat. Im Januar hatte die staatliche Expertenkommission noch gegen eine Trassenführung entlang des Baikal gestimmt. Erst nachdem man die Zahl der Experten um 34 Personen erhöht hatte, fiel die gewünschte Entscheidung zugunsten der Route am See.
60 Prozent der Tierarten und 15 Prozent der Pflanzenarten in der Region des Baikal-Sees sind endemisch, das heißt sie kommen ausschließlich hier vor.
Die Baikal-Robben sind die einzigen Süßwasser-Robben der Welt. Sie haben ein graues Fell und sind 130 Zentimeter lang. Im Sommer tummeln sie sich auf den Felsen im Winter leben sie unter der Eisdecke und schaben sich mit ihren scharfen Flossen Luftlöcher in das 90 Zentimeter dicke Eis. Die Baikal-Robbe stammt von ihren Artgenossen in der Arktis. Von dort wanderten Robben über verschiedene Seen zum Baikal.
Ende
Ulrich Heyden