Russland

Tschernobyl-Veteranen kämpfen für ihre Rechte

MOSKAU (n-ost) Walentin Kuklew wollte nach Tschernobyl. Nach der Reaktorkatastrophe wollte der heute 62jährige Strahlenexperte helfen. "Ich hatte viele Ideen. Ich war voller Enthusiasmus", erzählt der heute schwerkranke Mann.

Als Kuklew am 3. Juni 1986 - einen Monat nach der Reaktorexplosion - nach Pripjat, der Neubausiedlung für Tschernobyl-Arbeiter kam, empfing ihn eine drückende Stille. Die 49.000 Einwohner der modernen Siedlung, die wie alle "Atom-Städte" der Sowjetunion besonders gut versorgt wurde und deswegen als begehrter Wohnort galt, waren Hals über Kopf geflohen.

"Auf den Straßen standen leere Kinderwagen. Über den Mauern hingen teure Pelze und Teppiche. Man hörte keine Vögel singen. Die Stille drückte auf die Seele." Die radioaktive Wolke hatte die Siedlung verschont, aber einen angrenzenden Fichtenwald rot gefärbt. Er wurde später abgeholzt und entsorgt. Die Apokalypse schien nah. "Als wir mit dem Hubschrauber über Pripjat flogen, jagten Herden von Hunden, Katzen, Ziegen, Pferden und Vögeln dem Schatten unseres Hubschraubers nach, alle Tiere zusammen." Sie hielten den Schatten für ein menschliches Zeichen. Es war, als ob sie die Arche Noah suchten.

Es war eine irreale Welt. "Die Sonne schien. Die Obstbäume hingen voll von Birnen, Pfirsichen und Kirschen. In den Gärten wuchsen Erdbeeren." Trotz des Essverbots habe man dann doch zugegriffen. "Wir haben die Früchte gewaschen und dann gegessen."


Das Auge des Todes

Als der Reaktor Nr. 4 in Tschernobyl explodierte, arbeitete Walentin Kuklew in dem zentralen Moskauer Institut für Atomtests. Kuklew, der heute den Verband der Tschernobyl-Veteranen im Moskauer Umland leitet, dachte damals, ihn könne nichts mehr schrecken. Er hatte als Strahlen-Experte Atombombenversuche auf den sowjetischen Testgeländen in Semipalatinsk und Nowaja Semlja beobachtet. Für Tschernobyl hatte er sich freiwillig gemeldet. "Ich hatte die Büroarbeit in Moskau satt." Doch als er am 15. Juni 1986 in einem Hubschrauber das erste Mal über den geborstenen Rektor flog, war er sprachlos. "Wir sahen ein riesiges himbeerfarbenes Auge. Es war das Auge des Todes. Dort unten kochte eine Glut von dreitausend Grad." Obwohl die Hubschrauber mit Bleiplatten geschützt waren, starben viele Piloten an den radioaktiven Gasen.

In dem Moskauer Institut für Atombombentests wollte man den Meldungen aus Tschernobyl zunächst nicht glauben. "Der Mann, der nachts Bereitschaft hatte, entschied sich, die Meldung über die hohe Radioaktivität in Tschernobyl nicht weiter zu geben. Er glaubte es einfach nicht. Er dachte, die in Tschernobyl hätten falsch gemessen oder zuviel getrunken." Erst am nächsten Morgen bestätigte sich die Information. Ein Spezialflugzeug des Instituts war über den Rektor geflogen und hatte die ungewöhnlich hohe Strahlung gemessen.

"Unsere Regierung hatte vor allem Angst, dass sich die radioaktive Wolke gen Westen bewegt und dort bemerkt wird." Doch den Flug der Wolke konnten die Hüter des wissenschaftlichen Kommunismus nicht aufhalten. Zwei Wochen nach der Katastrophe kamen aus Schweden die ersten Alarmmeldungen.

"Bei uns kam keine Hilfe an."

Zweieinhalb Jahre arbeitete Kuklew in der Todeszone um den geborstenen Reaktor. Die Radioaktivität machte ihm und seinen Mitarbeitern schwer zu schaffen. "Wir waren sehr müde. Trotzdem schlief ich nachts nur drei Stunden." Die Luft war durch die Radioaktivität wie ein Magnet elektrisch aufgeladen. "Die Nase und der Mund trockneten aus."

In Pripjat leitete Kuklew ein Labor zur Strahlenmessung. Seine 150 Mitarbeiter suchten in der Zone um den Reaktor mit gepanzerten Militärtransportern nach Trümmerteilen des Reaktors. Durch die Explosion waren sie mehrere Hundert Meter weit geschleudert worden. "Wir hatten keine Dosimeter und keinen Mundschutz", erinnert sich Kuklew, "nur weiße Arbeitskleidung." Es herrscht fast kindliche Unwissenheit und "verbrecherische Desorganisation".

Die Hilfsmittel wurden zudem falsch eingesetzt. Einmal habe er Verkehrspolizisten geraten, den schon fast schwarzen Mundschutz abzunehmen. Auf dem ehemals weißen Teil hatte sich unheimlich viel radioaktiver Staub gesammelt. "Das war lebensgefährlich."

70 Prozent seiner damaligen Mitarbeiter aus dem Labor von Pripjat sind heute tot. Kuklew selber leidet an Bluthochdruck. Wenn er sich erkältet, liegt er monatelang im Bett. Sein Immunsystem ist zerstört. Das Gehen fällt ihm schwer und seine Sehkraft lässt rapide nach.

1988 wurde Kuklew nach Hause geschickt. In dem Moskauer Spezialkrankenhaus bekam er eine Blutwäsche. Dann plagten ihn Depressionen. Er wollte sich umbringen, weil er miterlebt hatte, wie die jungen Soldaten auf dem Dach des Reaktors beim Schippen von Schrott faktisch verheizt wurden. "Nach einer Minute Schippen wurden sie als Verstrahlte nach Hause geschickt." Seine eigenen Ideen habe er nicht verwirklichen können. Sein Enthusiasmus war vollständig verflogen. Er hatte den Glauben an sein Land verloren. Korrupte Beamte in Kiew und Moskau hätten die internationalen Hilfslieferungen geplündert und sich selbst die Taschen gefüllt. "Bei uns in Tschernobyl kam nichts an." Als es 1988 zum Erdbeben im armenischen Spitak kam, zeigten sich die Behörden erneut unfähig, den Menschen zu helfen. "Die Sowjetführung war mehr an Geheimhaltung interessiert, als an Hilfe für die Bevölkerung."

Ringen um Renten

Heute leben allein in Russland etwa 250.000 Liquidatoren. Davon sind 60.000 Invaliden. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. "An Statistiken hat die Regierung kein Interesse", meint Kuklew. Die Macht wolle die Katastrophe und ihre Folgen aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängen. Bei der Diagnose versuchten Ärzte andere Gründe für Krankheiten zu finden. Viele Daten über die Aufräumarbeiter seien zudem verlorengegangen, dazu gehören die zwischen 1986 und 1991 gesammelten Daten von Liquidatoren, die damals als geheim galten. Heute leben die Aufräumarbeiter verstreut über das gesamte Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Es gibt keine zentralisierte Datenerfassung.

Die Liquidatoren müssen heute wieder kämpfen, diesmal für ihre sozialen Rechte. Das 1992 beschlossene Gesetz, das die Sozialleistungen für Tschernobyl-Liquidatoren regelte, werde seit Jahren aufgeweicht, so Kuklew. Immer wieder müsse man in Gerichtsprozessen, Sternmärschen und Hungerstreiks um öffentliche Aufmerksamkeit ringen. Vor dem Menschenrechts-Gerichtshof in Straßburg konnten die Liquidatoren schon zahlreiche Fälle für sich entscheiden.

"Der größte Schlag gegen uns war die Streichung der sozialen Vergünstigungen Anfang letzten Jahres", meint Kuklew. Von dem neuen Gesetz waren in Russland alle Rentner, Invaliden und Tschernobyl-Liquidatoren betroffen. Allein den Liquidatoren wurden 15 Vergünstigungen gestrichen, darunter kostenloser Rechtsbeistand bei Gerichtsverfahren, verbilligte Wohnungsbetriebskosten und kostenlose Fahrten zu den Verwandten. Ein Tschernobyl-Liquidator bekommt heute an Rente und Zuschüssen nicht mehr als 140 Euro, so Kuklew. "Wir zählen nur noch als Unkostenfaktor." Im Fernsehen kämen die Helden von damals kaum noch vor. Zum 20. Jahrestag der Katastrophe seien in Moskau keine besonderen Veranstaltungen geplant.

Wie jedes Jahr werden auf dem Mytischinskoje-Friedhof vor der Stadt Kränze niedergelegt. Dort gibt es ein Denkmal für die ersten Toten, welche bei den Aufräumungsarbeiten in Tschernobyl umkamen.

Ende


Ulrich Heyden


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