Putins Bericht zur Lage der Nation
Moskau (n-ost) – Knapp zwei Jahre vor Ende seiner zweiten und damit wahrscheinlich letzten Amtszeit hat Wladimir Putin noch einmal politisches Profil gezeigt. Seine jährliche Rede zur Lage der Nation, die traditionell vom Fernsehen aus dem Marmorsaal des Kreml live übertragen wurde, begann der russische Präsident diesmal nicht mit Ausführungen zur Wirtschaftslage sondern mit dem Thema Bevölkerungsrückgang.
Was sei das wichtigste im Land, fragte Putin rhetorisch. Dann wandte sich der Kreml-Chef direkt an den Verteidigungsminister und erklärte, das Wichtigste sei „die Liebe, die Frauen und die Kinder.“ Die 1.000 geladenen Gäste, unter ihnen waren die Abgeordneten der beiden Parlamentskammern, der neu geschaffenen „Bürgerkammer“ und Vertreter der Kirchen, machten freundliche Gesichter und applaudierten kräftig.
Der jährliche Rückgang der Bevölkerung um 700.000 Menschen sei das zurzeit „drängendste Problem“ des Landes, erklärte Putin. Obwohl man schön öfter darüber gesprochen habe, habe sich „wenig geändert“. Der Kreml-Chef kündigte an, das Kindergeld und andere Zuschüsse für Mütter mit Beginn nächsten Jahres kräftig zu erhöhen.
[Das Kindergeld für das erste Kind soll von 750 auf 1500 Rubel (44 Euro) und für das zweite Kind auf 3.000 Rubel (88 Euro) im Monat erhöht werden. Frauen, die ein zweites Kind bekommen, will der Staat mit einem „Mütter-Kapital“ von 250.000 Rubel (7.350 Euro) unter die Arme greifen. Damit soll die Aufnahme von Hypotheken möglich werden. Finanzminister Aleksej Kudrin erklärte, für das Mütterprogramm würde mit Beginn des nächsten Jahres 40 Milliarden Rubel (1,17 Mrd. Euro) bereitgestellt. Der Kreml-Chef schlug außerdem vor, die Adoptierung von Waisenkindern materiell zu fördern. Zurzeit leben in russischen Waisenhäusern 200.000 Kinder. „Die Ausländer adoptieren bei uns mehr Kinder, als bei uns im eigenen Land adoptiert werden“, meinte der Präsident. Für Adoptivkinder soll der Zuschuss auf monatlich 4.000 Rubel (117 Euro) erhöht werden. ]
Außerdem forderte Putin eine „effektive Migrationspolitik“. Man müsse den Zuzug von „qualifizierten und gesetzestreuen“ Arbeitskräften aus dem Ausland fördern. Die zunehmenden rassistisch motivierten Überfälle auf Ausländer erwähnte der Präsident in seiner Rede nicht.
Als weiteres zentrales Problem nannte Putin die Korruption. In den 90er Jahren hätten sich bestimmte Leute „auf Kosten des Volkes“ in einem Maß bereichert, wie es das noch nie in der russischen Geschichte gegeben habe. Auch heute gäbe es noch Beamte und Unternehmer, die sich auf ungesetzlichem Wege bereichern. Diesen Leute werde man weiter „auf die Hühneraugen treten“.
Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Kreml-Chef die Korruption nun flächenmäßig ohne Berücksichtigung von Amt und Namen verfolgt. Eher wahrscheinlich sind Strafmaßnahmen mit Beispielcharakter, wie gegen den ehemaligen Jukos-Chef Michail Chodorkowski, der kein typischer „Korruptionär“ war, dafür aber politische Ambitionen gezeigt hatte.
Das Wettrüsten ist noch nicht zu Ende
Angesichts zunehmender Konfliktherde auf der Welt und die weiter existierende Gefahr des Terrorismus sei die Modernisierung der Armee „äußerst wichtig“, erklärte Putin. Russland werde in nächster Zeit zwei hochmoderne Atom-U-Boote in Dienst stellen. [Das seien die ersten strategischen Atom-U-Boote, die im neuen Russland in Dienst gestellten werden. An Bord seien Lenkwaffen vom Typ „Bulawa“ („Keule“). Diese Raketen seien zusammen mit der an Land stationierten Lenkwaffe Topol M („Pappel“) jetzt das nukleare Rückrat des Landes. Bis 2008 sollen zwei Drittel des Armee-Personals Berufssoldaten sein. Der bürokratische Apparat soll abgebaut, die Wehrpflicht auf zwölf Monate heruntergesetzt werden.]
Die USA bauten ihr Haus zu einer Festung aus, meinte Putin. „Gut für sie.“ „Prachtkerle.“ Ihre Verteidigungsausgaben lägen in absoluten Zahlen 25 Prozent höher als die Ausgaben Russlands. Russlands Verteidigungsausgaben seien dagegen nicht höher als die Verteidigungsausgaben der europäischen Nuklearmächte.
Der Kreml-Chef sparte nicht mit scharfen Worten Richtung Washington. „Wie das Sprichwort sagt: Kamerad Wolf weiß, wen er fressen muss. Er frisst ohne zuzuhören.“ Russland müsse ein sicheres und zuverlässiges Haus bauen, dürfe dabei aber nicht die Fehler der Sowjetunion wiederholen. Statt Hochrüstung gehe es um die Stärkung des intellektuellen Potentials. „Je stärker unser Militär ist, umso geringer wird die Versuchung sein, Druck auf uns auszuüben.“
Offenbar in Anspielen auf den US-Vizepräsidenten Dick Cheney, der Russland Einmischung in die Angelegenheiten seiner Nachbarn vorgeworfen hatte, meinte Putin, „wo bleibt all das Pathos für die Achtung der Menschenrechte und Demokratie, wenn es um die Wahrung ihrer Interessen geht?“
[Russland werde weiter mit der EU, den USA, China, Indien und anderen Staaten zusammenarbeiten. Mit der Europäischen Union will man die vier gemeinsamen Räume (Wirtschaft, innere und äußere Sicherheit, Kultur) weiterentwickeln.]
Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow lobte die Rede von Putin, fragte aber auch „wer soll das umsetzen?“ Angesichts der Tatsache, dass die Korruption im Beamtenapparat tiefe Wurzeln geschlagen hat, eine berechtigte Frage.
Ende
Ulrich Heyden