Schuldig in allen Punkten
Moskau – Am Dienstag begann vor dem Obersten Gericht im nordkaukasischen Wladikawkas die Urteilsverlesung zum Fall Nurpascha Kulajew. Der 24jährige Tschetschene hatte zusammen mit anderen schwerbewaffneten Terroristen am 1. September 2004 die Schule Nr. 1 von Beslan besetzt und 1.127 Geiseln – darunter vor allem Kinder – im Sportsaal der Schule gefangen genommen.
Mütter und Großmütter der Kinder die bei der Geiselnahme und der anschließenden Befreiungsaktion gestorben waren, hielten gestern vor dem Gerichtsgebäude eine Mahnwache ab. Sie trugen Photos von jungen Mädchen mit rosa Schleifen im Haar und Spielzeug im Arm. Sie hielten Plakate mit der Aufschrift „Alle Schuldigen zur Verantwortung ziehen!“ und „Kulajew und seinesgleichen seien verdammt bis in alle Ewigkeit.“
Nurpascha Kulajew - einer von 32 Terroristen (Augenzeugen wollen über 50 Geiselnehmer gesehen haben) - wurde gestern in an allen Punkten der Anklage schuldig gesprochen. Er ist angeblich der einzige überlebende Terrorist. Augenzeugen sahen jedoch, wie einige Geiselnehmer im Chaos des Sturms entkamen.
Die Anklagepunkte lauteten, Mord, Geiselnahme, Terrorismus und unerlaubter Waffenbesitz. Der stellvertretende Staatsanwalt Nikolai Schepel hatte die Todesstrafe gefordert. Da diese Strafe in Russland ausgesetzt ist, ist diese Forderung gleichbedeutend mit einer lebenslangen Haftstrafe. Schepel erklärte, mit dem Urteil gegen Kulajew seien die Untersuchungen zur Geiselnahme noch nicht abgeschlossen. Man werde die „Auftraggeber und Organisatoren“ der Geiselnahme noch ausfindig machen.
Kulajew stand während der Urteilsverkündung schweigend und ohne eine Mine zu verziehen in einem Glaskäfig. Der Tschetschene, der es in der russischen Armee bis zum Sergeanten gebracht und sich dann 1999 bei der Schlacht um Grosny den tschetschenischen Separatisten angeschlossen hatte, sah blass aus. In der Gerichtsverhandlung hatte Kulajew erklärt, er fühle sich nicht schuldig. Er sei zu dem Einsatz gezwungen worden, habe keine Waffen getragen und „niemanden getötet“.
Gedrängel im Gerichtssaal
Der Prozess gegen Kulajew lief über ein Jahr. Über 1.000 ehemalige Geiseln, unter ihnen viele Kinder, sagten vor Gericht aus. Die letzte Sitzung fand im Februar statt. Seitdem schrieben die Richter an dem Urteilsspruch.
Die Stimmung im Gerichtssaal war gespannt. Weil der Saal für alle Angehörigen der Opfer zu klein ist, wechseln sich die Frauen beim Zuhören ab. „Er muss erschossen werden“, sagte eine alte Frau dem russischen Fernsehkanal ORT. Eine andere Frau ist dafür, dass Kulajew lebenslang hinter Gitter kommt. „Soll er so leiden, wie wir leiden.“
Seit zwei Jahren kämpfen die Mütter der toten Kinder nun um die Wahrheit. Sie wollen wissen, warum die Terroristen ihren Überfall monatelang ungehindert in einem Wald vorbereiten konnten und warum die Geiselnehmer in einem Mannschaftswagen ungehindert bis zur Schule Nr. 1 vorfahren konnten. Sie verlangen Aufklärung darüber, wer den Einsatz zur Befreiung der Geiseln leitete, warum die Sicherheitskräfte mit einem Granatwerfer auf die Schule schossen und warum die Feuerwehr den Brand, der dann ausbrach, nicht rechtzeitig löschte.
Putin versprach eine objektive Aufklärung
Die Mütter fuhren sogar nach Moskau zu einem Treffen mit dem russischen Präsidenten. Wladimir Putin versprach eine vollständige und objektive Aufklärung. Der Kreml-Chef habe versprochen, die Mitglieder des Einsatzstabes zur Verantwortung zu ziehen, berichten die Frauen. Doch daraus folgte nichts. Ohne Erfolg forderte der Anwalt der Mütter, die Mitglieder des Einsatzstabes sowie Geheimdienstchef Nikolai Patruschew und Innenminister Raschid Nurgalijew vor Gericht zu laden. Doch der Staatsanwalt kam diesem Antrag nicht nach. Bis heute ist nicht bekannt, wer im Einsatzstab saß und wer die von den Geiselnehmern geforderten Verhandlungen ablehnte.
Die Mütter von Beslan sehen den Prozess gegen Kulajew trotzdem als Erfolg. Man habe erreicht, dass die über 1.000 Zeugenaussagen zum Hauptverfahren hinzugezogen wurden. Auf dieser Grundlage kann das Gericht nun weiterarbeiten. Außerdem erreichten die Mütter Einsicht in bisher geheime Dokumente, so etwa einen Brief des berüchtigten tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Basajew an Wladimir Putin. In dem Schreiben, datiert vom 30. August, fordert Basajew das Ende des Krieges und den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien.
Die Außenwände der Schule von Beslan stehen immer noch. An den schwarz verkohlten Wänden des Sportsaales – wo man die Geiseln gefangen hielt - hängen die Photos der umgekommen Kinder. Davor liegen Blumen. Die Überreste der Schule sollen jetzt abgerissen werden. Nächste Woche wird in Moskau entschieden, was für ein Denkmal an der Stelle der Tragödie errichtet wird.
Das Ende der Urteilsverkündung wird zum Wochenende erwartet. Dann wollen die Mütter von Beslan eine Pressekonferenz abhalten und das Verfahren abschließend bewerten. Der Anwalt schließt nicht aus, dass man noch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zieht.
Info-Kasten
Die Geiselnahme in Beslan dauerte vom 1. bis zum 3. September 2004. Über 50 schwerbewaffnete Terroristen nahmen 1.127 Geiseln, Kinder, Lehrer und Eltern, die ihre Sprösslinge zum ersten Schultag begleiteten. Während der Befreiungsaktion wurden 918 Menschen gerettet. 331 Menschen starben während der Tragödie, darunter 317 Geiseln, unter ihnen 186 Kinder, zwei Mitarbeiter des Katastrophenschutzministeriums, zehn Mitarbeiter des Geheimdienstes und ein Bürger von Beslan, der sich an der Befreiungsaktion beteiligte. 728 Geiseln und 55 Mitarbeiter der Sicherheitsorgane wurde verletzt.
Ende
Ulrich Heyden