Prassen ohne Scham
Bei den reichen Moskauern sitzen die Öl-Milliarden lockerMoskau (n-ost) – Wer durch das Moskauer Stadtzentrum schlendert, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Fast jedes dritte Auto ist ein Luxuswagen Marke Mercedes, BMW oder Chevrolet. Besonders beliebt bei den neuen Reichen sind Jeeps westlicher Nobelmarken. Am Steuer der Kraftprotze behält man im Verkehrsgewühl den Überblick. Die Masse an Blech und PS bietet auch Vorteile bei Überholmanövern auf den chronisch verstopften Moskauer Straßen. Russlands Hauptstadt schwimmt im Geld. Das springt jedem Besucher sofort ins Auge. Das Geschäft mit Öl und Gas hat Milliarden Dollar ins Land gespült. Die Immobilienpreise kletterten in der Folge in astronomische Höhen. 3.000 Dollar pro Quadratmeter zahlt man heute beim Wohnungskauf. Dennoch ist die Nachfrage riesig. Überall entstehen neue Büro- und Wohn-Hochhäuser. Schlichtes europäisches Design findet man in Moskau selten. Gebaut wird meist im Prunk-Stil mit Schnörkeln, Gold und eisernen Löwen.Blick in eine Moskauer Luxusboutique. Foto: Ulrich HeydenWo viel Geld ist, da explodieren die Preise. Eine Studie der US-Unternehmensberatung Mercer Human Ressource Consulting bestätigte jetzt, was die Moskauer schon lange wissen. Moskau ist wahnsinnig teuer. Für internationale Geschäftsleute ist es derzeit sogar die teuerste Stadt der Welt. Nach dem in New York veröffentlichten Bericht löste die russische Hauptstadt Tokio als teuerste Stadt ab. Japans Hauptstadt liegt jetzt nach Seoul auf Platz drei. Die teuersten europäischen Städte nach Moskau und London (Platz fünf) sind Genf (Platz sieben) und Kopenhagen (Platz acht). Deutsche Städte sind nicht unter den ersten 50 auf der Liste.
Über hanseatisches Understatement können die neuen Russen nur den Kopf schütteln. Wer etwas hat, zeigt es mit Stolz, hält sich – für alle Fälle – jedoch auch einen Leibwächter. Die Anwesen vor der Stadt sind mit hohen Zäunen geschützt. Doch mancher pfeift auf Sicherheitsvorkehrungen und kutschiert die Freundin oder Frau im Mercedes-Cabriolet durch die Stadt. Weil ihre Männer wenig Zeit haben, schlagen die Frauen der neuen Reichen ihre Zeit in Boutiquen und Schönheitssalons tot. Im fünften Stock des „Nautilus“, einem postmodernen Bau aus Glas und Stahl, sitzen drei Blondinen an der „Nail-Bar“ und lassen sich ihre Nägel feilen. In den angrenzenden „Kabinetts“ wird massiert, junge Damen schwitzen auf Sonnenbänken. „Ich rate immer, nicht alle Pigmente an die Hautoberfläche zu locken“, meint Jelena am Info-Desk. Aber viele Kundinnen wollten unbedingt braune Haut. Besonders wenn es auf die Malediven oder an die Cote d’Azur gehe. Da möchten die jungen Damen gerne schon am ersten Tag gut gebräunt am Strand posieren. Nach der Schönheitskur lässt man es sich ein Stockwerk tiefer in der „Vinotek Dissident“ gut gehen. Die Gäste können zwischen 200 Weinen wählen, vom einfachen Bordeaux bis zum Chateau Margaux, das Glas für 250 Euro. Damen ohne Kavalier kommen mit Freundin. Zum Essen gibt es Taube in Rotwein mit Spinat, zubereitet vom toskanischen Chefkoch Giovanni Susini. Danach zur Entspannung eine Zigarette auf dem Balkon. Während unten der Verkehr rauscht, schweift der Blick über den weiten Platz hinüber zu einem klotzig-blassgelben Gebäude des Inland-Geheimdienstes FSB. Manchem gefällt wohl die Vorstellung, dass ein Staatsschützer mit dem Fernrohr auf den Teller guckt. Hinter dem Namen des Restaurants „Vinotek Dissident“ sucht man vergeblich nach einem tieferen Sinn. Politische Slogans aus der Sowjetzeit – beliebt sind auch Agit-Prop-Plakate und Hammer-und-Sichel-Embleme – sind heute reine Marketinginstrumente. Nach dem Essen lockt die Luxusmeile zwischen Geheimdienstzentrale und Kreml. In den 90ern kauften die wohlhabenden Russen ihre „Schmotki“ (Klamotten) im Ausland. Jetzt bekommt man alles in Moskau, auch die neuesten pastellfarbenen Flatterkleider im Stil 20er-Jahre.In der schlicht-grauen Halle des Bentley-Händlers gleitet der Blick über viertürige Continental in weiß, schwarz und rot. Das Preisschild weist bis auf zwei Stellen hinter dem Komma exakt aus: 244.100,00 Euro. Zwei Blondinen, die eine asch-, die andere naturblond, geben Auskunft über Lieferzeiten. „Wenn Sie heute bestellen, bekommen sie den Wagen im September“, meint die Naturblonde. „Wir verkaufen hier in Moskau 200 Autos im Jahr, damit liegen wir in Europa an der Spitze.“Um die Ecke im Tretjakowskij Prodjesd, einem Gässchen mit Kopfsteinpflaster, reiht sich umgeben von schön restaurierten altrussischen Häusern eine Luxusboutique an die nächste. Hier residieren Designer und Juweliere aus Europa, Prada, Brioni, Frette, Graff, Gucci, Baccarat, Dolce & Gabbana. Es ist wie in Paris oder Rom, wären da nicht die Sicherheitsbeamten an jeder Ecke. Sie tragen Baseball-Kappen und haben alle den obligatorischen Sprechfunk-Knopf im Ohr. Hier kaufen „neue Russen“ und hohe Beamte. Wer keine weibliche Begleitung hat, kommt mit seinem Stylisten. Das Äußere ist im neuen Russland geschäftsentscheidend. Maßschneider und MaseratiVor dem Laden von Ermenegildo Zegna steht ein Mann mit einem ausgebeulten Sommermantel, der die Maschinenpistole nur notdürftig verdeckt. Im ersten Stock zwischen Maserati-Sportwagen und Kleiderbügeln taucht ein bekanntes Gesicht auf. Der junge Mann, der unruhig im Katalog für Herrenanzüge blättert und nicht gestört werden will, ist Wladislaw Surkow, Berater von Präsident Wladimir Putin. Um seine Beine läuft gebückt ein Schneider mit Maßband. Bei Roberto Cavalli kaufen die Kinder der Ölmagnaten, Schlagersänger und kräftige junge Burschen, die ihr Geld im Umkreis des russischen Zoll verdienen. Dort gibt viel Buntes und Gold, so wie es die Russen mögen. Ein grünes Lederjäckchen für den Herrn bekommt man für 168.000 Rubel (4800 Euro), ein Lackledertäschchen in Türkis mit Goldkette für die Dame gibt’s zum Schnäppchenpreis von 500 Euro. VIP-Kunden können sich in „Boudoirs“, großzügigen Umkleidräume mit Spiegeln, weißen Vorhängen und flauschigen Hockern, beraten lassen. Schnell raus mit dem GeldDie Lehre der Russen aus den Finanzkrisen der 90er Jahre ist, dass man Geld schnell ausgeben muss. Niemand weiß, wie lange die Stabilität an den Finanzmärkten anhält. Gerüchte über neue Krisen sind der Pfeffer im süßen Moskauer Leben. Die Börse und der Immobilienmarkt sind überhitzt, warnen Experten. Wer kein Geld über hat, aber trotzdem konsumieren will, nimmt einen Kredit auf. Die Zinsen sind mit bis zu 40 Prozent im Jahr saftig, aber wer will abseits stehen, wenn alle kaufen? In der neuen Mittelschicht besonders gefragt sind Haushaltsgeräte, PC-Technik, Möbel und Autos. Nach einer Studie der Moskauer Investmentbank Renaissance Capital sind die Umsätze im russischen Einzelhandel in den vergangenen Jahren massiv gestiegen. Lag der Umfang des Marktes vor fünf Jahren noch bei 110 Milliarden Dollar, so werden jetzt bereits 250 Milliarden Dollar erzielt. An dem Kauf-Rausch verdienen auch deutsche Unternehmen. Der Handelskonzern Metro erzielte mit seinen Cash- und Carry-Läden im vergangen Jahr einen Umsatzzuwachs von 60 Prozent. Glaubt man den offiziellen Statistiken, geht es den Russen immer besser. Im ersten Quartal stiegen die Einkommen der Bevölkerung um 8,3 Prozent. Nach Berechnungen der Weltbank liegt Russland in der Gruppe der Länder mit „hohem mittleren Einkommen“. Doch erst beim zweiten Blick in die Zahlen ergibt sich ein reales Bild. Die Einkommensunterschiede in Russland sind so hoch, wie nirgends sonst auf der Welt. Die Zahl der russischen Milliardäre stieg laut „Forbes“ in diesem Jahr auf 44. Das sind 14 mehr als im Vorjahr. Spitzenreiter ist der Besitzer des FC Chelsea, Roman Abramowitsch, mit einem geschätzten Vermögen von 18,2 Milliarden Dollar. Zum Vergleich: Die Beschäftigten in der Landwirtschaft und der Leichindustrie verdienen im Monat 100 und 140 Euro, die Angestellten in der Ölbranche bekommen immerhin 700 Euro. Viele Angestellte bekommen jedoch noch einen zweiten Teil des Einkommens in einem diskreten Umschlag. Damit sparen die Unternehmen Steuern.Bewegte NächteSelbst in den Nächten, kommt das Moskauer Stadt-Zentrum nicht zur Ruhe. Auf der vierspurigen Twerskaja- Straße kommt man Freitagnacht nur im Schritttempo voran. Wer es sich leisten kann, ordert für die nächtliche Spritztour eine persönliche Polizei-Eskorte. Die Polizei-Jeeps mit ihren blauen Streifen und Funkantennen sehen bedrohlich aus. Sie halten Neugierige und Aufdringliche auf Abstand. Ruhig ist es in der Zehn-Millionen-Stadt nur zwischen drei und fünf Uhr morgens. Dann fahren Tankwagen durch die Stadt. Sie spritzen die staubigen Straßen mit einer Seifenlauge ab. EndeUlrich Heyden