Auf Jiddisch durch Lemberg
„Sie stehen vor dem einstigen Konzentrationslager Janiv. Es war das größte Konzentrationslager in der Westukraine. Während des Zweiten Weltkrieges wurden hier ca. 200 000 Juden vernichtet. Überlebt haben nur einige Dutzend der ehemaligen Häftlinge. Durch sie erfuhr die Welt von den blutigen Verbrechen der Nazis.“So ungefähr beginnt Boris Dorfmann seinen Stadtrundgang durch das „Jüdische Lviv“. Seit acht Jahren führt der Dreiundachtzigjährige Besucher aus aller Welt zu wichtigen Stätten jüdischen Lebens in Vergangenheit und Gegenwart der heimlichen Hauptstadt der Westukraine. Das Besondere dieser Exkursionen: Herr Dorfmann ist der einzige in Lviv, der auf Jiddisch durch die Stadt führt. „Unsere ganze Familie sprach Jiddisch. Ich habe diese Sprache sozusagen mit der Muttermilch aufgesogen“, erläutert Dorfmann.
Geboren wurde der heutige Stadtführer in Moldau. Doch das Sowjetregime war der jüdischen Familie Dorfmann nicht freundlich gesinnt. Eines bourgeoisen Nationalismus beschuldigt, saß die Mutter 15 Jahre in Gefängnissen und Lagern in Sibirien, der Vater kam in einem Lager in Kasachstan ums Leben. Ein Grund, warum Dorfmann nie in die kommunistische Partei eintrat, obwohl seine Familie später rehabilitiert wurde. Nach Lviv kam Boris Dorfmann Anfang der 50er Jahre, ein Jahr später heiratete er. Bis 1986 arbeitete er als Apotheker. Seine Frau unterrichtet im Jüdischen Sprachzentrum Hebräisch. Der Sohn lebt in New York und die Tochter arbeitet in Lviv als Pharmazeutin.
Das Holocaust - Denkmal in Lviv / Andrij Vovk, n-ost
Beständig versucht Dorfmann sein Jiddisch zu vervollkommnen. Er bezieht jiddischsprachige Zeitungen aus Polen, Russland und anderen Ländern. „Das Jiddische ist eine tausend Jahre alte Sprache“, erklärt er. Sprachwissenschaftler beschreiben es als Dialekt des Deutschen, es gäbe aber auch solche, die Jiddisch als slawischen Dialekt betrachten. Es war die Sprache der Ostjuden, deren Zahl einst mit cirka elf Millionen beziffert wurde. Der Stadtführer meint, 1918-1920 wären die Blütejahre des Jiddischen gewesen. In dieser Zeit entwickelten sich vor allem Literatur und Kunst in dieser Sprache. Obwohl die Heilige Schrift in Hebräisch verfasst ist, wäre für viele einfache Menschen das Jiddische die Sprache des religiösen Lebens gewesen. Aus Dorfmanns Sicht war Jiddisch, bevor es verfiel, eine elitäre Sprache, vergleichbar dem Lateinischen.
Heute erfährt das Jiddische eine Art Wiedergeburt. An einigen deutschen Universitäten, darunter in Berlin und Potsdam, lernen Studenten Jiddisch. Weniger die Konversation sei Ziel des Unterrichts, als vielmehr der Zugang zur Mentalität, die in dieser Sprache liege. Gerade diese Studenten gehören zu den Kunden Dorfmanns. „Sie kommen mit ihren Professoren, um die Zentren der jüdischen Kultur zu besuchen und die Orte kennen zu lernen, in denen man Jiddisch sprach“, sagt Dorfmann.Dass Boris Dorfmann überhaupt Stadtführungen auf Jiddisch anbietet, hat sich zufällig ergeben. Vor acht Jahren wandten sich Wissenschaftler aus Lübeck an ihn und baten um ein Treffen. Er war einverstanden und die Lübecker kamen zu einer wissenschaftlichen Diskussion nach Lviv. Später luden sie den Lviver nach Deutschland ein. Er reiste zu Vorträgen, lernte neue Menschen kennen, wurde wieder eingeladen. Die gewonnenen Freunde besuchten Lviv und Dorfmann zeigte ihnen mit dem jüdischen Leben verbundene Orte und Plätze. In Deutschland erzählten die Besucher von dem Stadtführer, der Jiddisch spricht. Der Kreis der Interessenten und somit die Zahl der Exkursionen wuchsen. Mehrfach interviewten ihn Journalisten. Bald schon interessierten sich nicht nur Deutsche, sondern auch Touristen aus Frankreich, der Schweiz, den USA und Israel für die jiddischsprachigen Stadtrundgänge.
Diejenigen, die kein Jiddisch verstehen, führt Dorfmann auch in deren Muttersprache durch die Stadt. Neben Jiddisch und Hebräisch beherrscht er Moldauisch, Rumänisch, Russisch und Deutsch. Auch ein wenig Englisch und Französisch spricht er. Im Durchschnitt dauert der Stadtrundgang mit dem Titel „Das jüdische Lviv“ fünf bis sechs Stunden. Er beinhaltet Informationen zur Geschichte der Juden und zum heutigen jüdischen Leben in der Stadt. Zu den historischen Plätzen, die Dorfmann zeigt, gehört die Ruine der ältesten Lviver Synagoge, der „Goldenen Rose“, die 1585 erbaut wurde. An anderen Stellen kann er lediglich auf Gedenktafeln verweisen, die an die einstigen Synagogen erinnern. Heute gibt es noch zwei Synagogen in Lviv, von denen eine dem religiösen Leben, die andere als jüdisches Kulturzentrum dient. „Die heutigen Lviver Juden sind weniger religiös“, sagt Dorfmann mit Bedauern in der Stimme. Acht verschiedene jüdische Organisationen gibt es in der Stadt, kulturelle, wissenschaftliche, religiöse und Jugendorganisationen. Ein neues Gedenkzentrum ist entstanden und liegt genauso auf der Route von Dorfmanns Stadtrundgang wie lokale jüdische Presseorgane.
Eines der wichtigsten Ziele ist das Holocaust-Denkmal. „Nicht selten sehe in an diesem Ort Tränen in den Augen der Touristen“, sagt Dorfmann. In Lviv selbst lebten vor dem 2. Weltkrieg cirka 140 000 Juden, heute sind es nur noch knapp 3000. Gleichsam beklemmend ist auch der Besuch der Bahnstation Klepariw. Von hier wurden zwischen 1941 und 1943 etwa eine halbe Million galizischer Juden in die Gaskammern des weniger als 100 Kilometer entfernten Vernichtungslagers Belzec gebracht.
Das Konzentrationslager Janiv, ein weiterer Punkt auf Dorfmanns Route, befand sich unweit des Dorfes Lysenychy bei Lviv. Es wurde im Oktober 1941 als Deportationslager angelegt, jedoch vernichteten auch hier die Nationalsozialisten grausam Juden. Unter der Bezeichnung „Todes-Tango“ wurden Juden bei Orchestermusik erschossen und im nahegelegen Steinbruch vergraben. 1943 wurden die noch im Konzentrationslager verbliebenen Juden gezwungen, die zunächst nur vergrabenen Leichen zu verbrennen, bevor das Lager geschlossen wurde. Die letzten Insassen wurden vernichtet, nur einer sehr kleinen Gruppe gelang es zu fliehen. 1994 wurde unweit des ehemaligen Konzentrationslagers ein Gedenkstein errichtet und man plant den Bau einer Gedenkstätte.
Werbung macht Dorfmann für seine Exkursionen nicht. „Die Interessenten treten selbst an mich heran“, sagt er. „Manche rufen mehrere Monate im Voraus an.“ Einen konkreten Preis gibt es nicht. Jeder gibt das, was er für richtig hält. „Für mich ist es einfach interessant, mit den Menschen zu sprechen, die sich für die jüdische Geschichte interessieren. So entstehen neue Bekanntschaften, die häufig zu Briefwechseln und Freundschaft wachsen“, begründet Dorfmann.