Russland

Verschlungene Wege nach St. Petersburg

Auf dem Weg zum G8-Gipfel in St. Petersburg wurden über hundert Globalisierungskritiker verhaftet.Moskau (n-ost) – Bei 30 Grad sitzen sie auf der Tribüne des Kirow-Stadions. Ältere Bürger diskutieren über die geplante Reform der kommunalen Wohnungsbewirtschaftung, die Folgen von Sozialkürzungen und Betrügereien von Wohnungsbaugesellschaften. Junge Russen in roten Lenin-T-Shirts brüten über der Frage, welche Gruppen in der Gesellschaft am ehesten für die Revolution zu gewinnen seien; die Organisation "Front-Aids" leitet eine Diskussion über die Probleme bei der Beschaffung preisgünstiger Medikamente gegen die Immunschwäche-Krankheit.Die Stadtverwaltung von St. Petersburg hatte den Globalisierungskritikern, die aus Anlass des G8-Gipfels das „2. Russische Sozialforum" veranstalten, ein Stadion auf einer Insel in der Newa, weitab vom Stadtzentrum zur Verfügung gestellt. Der Korrespondent des russischen Fernsehsenders NTW sprach betroffen von einem „Reservat". 850 Menschen aus ganz Russland, darunter eine Handvoll Ausländer, hatten sich bis Freitagvormittag für das Sozialforum registriert. Etwa fünfhundert konnten nicht kommen, weil sie von den Sicherheitskräften behindert wurden, erklärte Ilja Ponomarjow, einer der Forums-Organisatoren, im Gespräch mit der Gouverneurin von St. Petersburg, Walentina Matwijenko, welche die Veranstaltung am Freitag überraschend besuchte. 150 Personen wurden – einige für kurze Zeit, einige länger-, verhaftet. Unter den Verhafteten sind auch ein Schweizer und zwei deutsche Studenten aus Bielefeld, die sich an einer Anti-G8-Fahrradkarawane von Berlin nach St. Petersburg beteiligt hatten. Die drei Radler wurden wegen „öffentlichen Pinkelns" zu zehn Tagen Haft verurteilt. Suche nach angeblichen ExtremistenIn den Zügen von Moskau nach St. Petersburg suchten Sicherheitsbeamte anhand von Namenslisten angebliche Mitglieder „extremistischer Organisationen", berichtete Ponomarjow. Den Verhafteten sei der Besitz von Drogen und Sprengstoff vorgeworfen worden. Nach Berichten von Anwälten wurden über 80 Personen gezwungen, Eisenbahnzüge nach St. Petersburg zu verlassen. Die gutgelaunte Gouverneurin von St. Petersburg versprach während ihres Besuchs auf dem Sozialforum, alle Verhaftungen in ihrem Verantwortungsbereich zu überprüfen. Bezüglich der von den Globalisierungskritikern geforderten Demonstration am Sonnband blieb sie jedoch hart. Es sei bekannt, dass es im Rahmen von G8-Gipfeln meist zu gewalttätigen Demonstrationen komme. Zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen wolle sie den Bürgern ihrer Stadt „nicht zumuten". „Wenn die Stadtverwaltung keine Demonstration genehmige", drängelte Forums-Organisator Ponomarjow, könne er „für nichts garantieren." Radikale Gruppen planten in diesem Fall Aktionen im Stadtzentrum „auf eigene Faust". Doch Frau Matwijenko ließ sich nicht umstimmen.Hafen und Straßen gesperrtDie Bürger der Newa-Stadt müssen sich während des Gipfels erheblich einschränken. Zahlreiche Straßen werden gesperrt. Wer eine Datscha hat, ist bereits dorthin geflüchtet. Die Bewohner des St. Petersburger Vororts Strelna – dort befindet sich der Konstantin-Palast, wo die Staatschefs tagen – erreichen ihre Wohnungen nur noch mit Sonderausweisen. Die Vorortzüge halten nicht mehr in Strelna, sondern fahren durch.Der Flughafen und der Hafen der Newa-Stadt werden während des Gipfels gesperrt. Im Hafen von St. Petersburg fahren während des Gipfels nur Boote der Polizei und Tragflächenboote, mit denen die Journalisten und Delegationsmitglieder zum Konferenz-Ort gebracht werden.In Folge der Verkehrs-Einschränkungen rechnet man in St. Petersburg mit Millionenverlusten. Der Flughafen macht wegen der Schließung ein Minus von einer Million Dollar, die Hafenbetriebe einen Verlust von 2,5 Mio. Dollar, berichtete die Wirtschafts-Zeitung „Wedomosti". Mittelfristig versprechen sich russische Reiseveranstalter jedoch positive Auswirkungen vom G8-Gipfel. Das internationale Image der Newa-Stadt werde – wie schon nach dem Stadtjubiläum vor drei Jahren – spürbar steigen.

Der Gipfel hat vielfältige Auswirkungen auf das Leben der Bürger. Während die Staats- und Regierungschefs im Konstantin-Palast tagen, verfaulen „die einzigen Erdbeeren, die wir im Gebiet St. Petersburg haben", klagte der Direktor der Sowchose „Tajzy" gegenüber der Internetzeitung fontanka.ru. Zurzeit werden dort täglich dreieinhalb Tonnen Erdbeeren geerntet. Da aber die Zufahrtsstraßen zur Sowchose gesperrt sind, können die freiwilligen Erntehelfer nicht anreisen. Wer in St. Petersburg am Wochenende größere Geldbeträge braucht, musste sich rechtzeitig mit Bargeld eindecken. Den Geldautomaten werden am Wochenende die Scheine ausgehen, da bewaffnete Geldtransporte während des Gipfels nicht erlaubt sind. EndeUlrich Heyden


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