Russland

Heidnische Kinder der Perestrojka

Vor 15 Jahren kollabierte die atheistische Sowjetunion – seitdem boomen skurrile Naturreligionen Moskau/Popowka (n-ost) – Im Dorf Popowka, 160 Kilometer von Moskau entfernt, lodert ein drei Meter hohes Feuer. „Allergott existiert, Feuer existiert, ich existiere”, sagt der bärtige Priester und die versammelte Gemeinde wiederholt seine Worte im Chor. „Radar“ wird der Priester genannt. Die Lobpreisung des Feuers ist ein unentbehrlicher Teil des slawischen Sommerfestes Iwan Kupala, das in Popowka noch nach alten Regeln gefeiert wird.  Allein sind „Radar“ und seine Getreuen dabei allerdings nicht. Das Abenteuer lockt hunderte von Touristen an. Für 50 Euro pro Person organisieren Reiseagenturen Kaffeefahrten, die das Dorf der Heiden in eine Art Freilichtmuseum verwandeln.Gesicher altslawischer Gottheiten, Foto: Renata KossenkoAuf einem Feld stehen Holzpfähle, in die die Gesichter alter slawischer Götter eingraviert sind. Die sie umgebenden Felsbrocken erinnern entfernt an das britische Kultgelände Stonehenge. In slawische Tracht gehüllte junge Frauen und Männer erzählen von alten Sitten und Bräuchen und beziehen das Publikum mit ein. Das Iwan-Kupala-Fest ist eine Party, bei der getanzt, mit alten Instrumenten musiziert und übers Feuer gesprungen wird. Wenn sich die Feiernden im Kreis aufstellen, an den Händen halten und dabei die Macht des Gewittergottes Perun aufrufen, verwischen die Grenzen zwischen Show und Religion. Doch die Organisatoren meinen es ernst: Ihr Götzentempel ist mehr als eine Dekoration für Touristen, sie selbst sind keine Feierabend-Heiden. Mit den Veranstaltungen hoffen sie, neue Anhänger für ihren Glauben zu gewinnen. Seit 1991 – dem Jahr also, in dem die Sowjetunion auseinander fiel - lebt die heidnische Gemeinde im Dorf Popowka. Derzeit sind es 28 Leute, die in einer Siedlung am Rande des Dorfes Popowka ihren Hof pflegen. Er besteht aus vier Kühen, einem Bienenstock und einigen Ackerfeldern. Das reicht gerade so, um über den Winter zu kommen. Die Einnahmen aus dem Tourismus sind ein willkommenes Zubrot.
 
Im Jahre 988 wurde Russland christianisiert. 1917 folgte mit Gründung der Sowjetunion das Zeitalter des Atheismus. Mit dem Beginn von Glasnost und Perestrojka vor 20 Jahren erhielt das Volk seine geistige Freiheit zurück und begab sich auf die spannende Suche nach seinem Glauben. Alte Wahrheiten zählten plötzlich nicht mehr. Es wimmelte nur so von gesellschaftlichen Gruppierungen aller Art. Die heute 61-jährige Olga Tropowa rief damals mit Gleichgesinnten die „1. Kommission anomaler Erscheinungen“ ins Leben und begann, systematisch UFO-Erscheinungen und übernatürliche Begabungen einzelner Menschen zu erforschen.  „In der Gesellschaft herrschte eine generelle Geistlosigkeit. Unser Volk brauchte eine neue Basis“, erklärt die studierte Biologin. Die Weltreligionen hätten keine Antworten geboten. Im Gegenteil, das Christentum habe zu einer „moralischen Degradierung des russischen Volkes“ geführt und die slawischen Wurzeln durchtrennt. Um diese zu finden, brach Tropowa in den entbehrungsreichen Norden Russlands auf und studierte die Lebensweise dort siedelnder altslawischer Stämme. Im fernen Norden Sibiriens ist der Naturglaube noch am stärksten verwurzelt.Der Hohepriester der Gemeinde wird "Radar" genannt, Foto: Renata Kossenko
 
„Die Idee hier eine Gemeinde zu gründen, kam uns mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion“, erzählt die 61-Jährige. „Damals herrschte ein totales Chaos. Auf den Märkten wurde sogar das in Tschernobyl angebaute Gemüse verkauft. Wir dachten, wir pflanzen lieber unser eigenes Essen an. Also zogen wir weg aufs Land“, erinnert sich Olga Tropowa.
In der Gemeinde gibt es keine festen Regeln, die das gemeinsame Leben einengen würden. Diese Offenheit zieht sogar Pilger ins Dorf. Der 70-jährige Oleg Michajlowitsch aus der sibirischen Stadt Tomsk ist fast viertausend Kilometer gereist. Der ehemalige KGB-Agent hofft, dass seine kranken Beine nach dem viermonatigen Aufenthalt in der Gemeinde wieder gesund werden. „Das ist ein Wunderort“, sagt er. „Viele Menschen werden hier geheilt, einfach nur durch die Atmosphäre.“ Gerne erzählen die Siedler, wie ein an Krebs Erkrankter und dadurch zum Tode verurteilter Oberst gesund wurde. Die Ärzte hätten ihm noch vier Monate Lebenszeit prognostiziert. Gelebt habe er dank Popowka dann noch 14 Jahre. Olga Tropowa ist überzeugt, dass das Dorf Popowka in einem „anomalen“ Bereich liegt, in dem sich „geomagnetische Wege kreuzen“. Sie zeigt ein Fotoalbum mit Bildern, auf denen weiße Kugel und Silhouetten zu sehen sind.„Energieklumpen“, erklärt sie und gibt zu verstehen, dies seien zugleich „Geister“, an denen es in Popowka nicht mangele. „Unsere Geister sind sehr stark“, fügt sie überzeugt hinzu. Der 30-jährige Alexej spielt einen solchen Geist für Touristen. In der Rolle von „Domowoj“, dem Hausgeist, fühlt er sich wohl wie in seiner eigenen Haut. Seit 15 Jahren ist Alexej Mitglied der Gemeinde. Als sein Großvater, der gegen den illegalen Handel von Drogen kämpfte, unter unklaren Umständen ermordet wurde, suchte er in Popowka Zuflucht. Seiner festen Überzeugung nach liegen in dieser Religion die Wurzeln Russlands.Der heidnische Altar wurde nach einem Vorbild aus der 9000 Jahre alten slawischen Siedlung Arkajem errichtet. Er besteht aus Holzpfählen, die in drei Kreisen angeordnet sind und am oberen Ende Kristallkugeln tragen. Eingeflossen sind auch Kenntnisse der indischen Lehre Wedi und allgemeine „Grundkenntnissen energetischer Verbindungen“. Wo alte Überlieferungen lückenhaft sind, muss die Fantasie weiter helfen. Obwohl die Gemeinde die Wahrheit bei den „Großvätern“ sucht, gibt es in ihren Riten auch moderne Züge. So wird auf Fleisch verzichtet, was zu alten Zeiten kaum üblich gewesen sein dürfte.Die weit verbreitete Vorstellung vom Heidentum als einem barbarischen Glauben dementieren die Siedler von Popowka vehement. „Die slawischen Heiden waren sehr human. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung haben sie nie Menschenopfer gebracht“, sagt Oleg Efremow, der Priester. Er „füttert“ die heidnischen Geister ausschließlich mit Lebensmitteln: Brot, Kekse, Milch. Der größte Verdienst der alten Religion sei das Streben nach einem Leben im Einklang mit der Natur gewesen. Etwas, das der heutigen Welt fehle „Jeder muss sein Bestes geben, um die Welt zu verändern“, fasst Olga Tropowa zusammen „Wir tun dies, indem wir unseren Glauben praktizieren, zur Rettung unseres eigenen Volkes und der ganzen Welt.“ Das freut die Touristen, auch wenn bei dem einen oder anderen vielleicht letzte Zweifel bleiben. *** Ende ***


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