Russland

Verdrängt und vergessen

An den August-Putsch will sich in Russland heute Niemand so richtig erinnernMoskau (n-ost) – Als das Moskauer „Notstandskomitee“ am 19. August 1991 Michail Gorbatschow den Atomkoffer entwendete und Panzer in der Hauptstadt auffahren ließ, hielt die Welt den Atem an. Doch in Russland will sich heute niemand so richtig an die dramatischen „August-Ereignisse“ vor 15 Jahren erinnern. Die damaligen Helden, die sich mit dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin in dessen Amtssitz, dem „Weißen Haus“ verbarrikadierten und mit ihren Protesten die Putschisten nach drei Tagen in die Knie zwangen, werden nicht in den Kreml geladen, es gibt keine Talkshows, noch nicht mal ein Gedenkkonzert für die drei beim missglückten Sturm auf das „Weiße Haus“ getöteten Demonstranten.Moskau genießt seine Öl-Dollars, da scheint Vergangenheitsbewältigung störend. In der Hauptstadt demonstrierten gerade einmal 100 Kommunisten. Zur Kundgebung der Demokraten werden 300 Menschen erwartet. Für Boris Jelzin und Michail Gorbatschow, die damals – jeder auf seine Weise - für Demokratie stritten, interessiert sich heute kaum noch Jemand.Der Putsch beförderte den Zerfall der Sowjetunion, viele Menschen empfanden dies als Katastrophe. Professoren mussten sich ihren Lebensunterhalt auf Flohmärkten verdienen, Sparguthaben lösten sich über Nacht auf, Staatseigentum ging zum Schleuderpreis über den Tisch, Russen in der Ukraine waren plötzlich Ausländer. Den russischen Demokraten scheint es heute wie ein Traum, dass sich damals eine Volksbewegung gegen die drohende Diktatur erhob. Seitdem hat es ein derartiges Bürger-Engagement nicht mehr gegeben. Die Rufe von damals sind verhallt, viele Hoffnungen zerstoben. Die Russen wissen heute nicht woher sie eigentlich kommen und wohin sie genau  wollen. Der Schriftsteller Michail Schwanezki hat es auf den Punkt gebracht. „Der Putsch liegt schon 15 Jahre zurück. Aber wir wissen bis heute nicht, ob wir gesiegt haben oder nicht.“ Die Nation ist am Suchen. Entsprechend schwammig sind die Formulierungen zum Putsch in den Schulbüchern. Einen nationalen Konsens gibt es nicht. Die Gesellschaft ist zerrissen. Der Putsch sei nur ein Machtkampf in der Führung gewesen, meinen 39 Prozent der Menschen. Das ergab eine Umfrage des Lewada-Instituts. 36 Prozent der Befragten (und 21 Prozent der Jugendlichen zwischen 18 und 24) empfinden den 19. August 1991 als tragisches Ereignis „mit verhängnisvollen Folgen für das Land und das Volk“. 22 Prozent der Befragten erklären, sie seien im August 1991 auf der Seite Jelzins gewesen. Doch nur zwölf Prozent der Befragten meinen heute, Jelzin und die Demokraten hätten damals Recht gehabt. 44 Prozent sind der Meinung, dass sich das Land nach dem August 1991 „nicht in die richtige Richtung entwickelt“, 30 Prozent glauben dagegen, die Richtung stimmt. Putschisten rechtfertigen sich
 
Die Putschisten wurden 1994 auf Beschluss der Duma und gegen den Widerstand Jelzins amnestiert. Der Innenminister hatte sich unmittelbar nach dem Putsch umgebracht. Die meisten Putschisten leben heute als Rentner. Dmitri Jasow, Putschist und sowjetischer Verteidigungsminister verteidigt bis heute die Ausrufung des Notstands. „Wir wollten die Auflösung der Sowjetunion verhindern, was Gorbatschow wollte.“ Weil der Putsch missglückt sei, habe Russland führende Positionen in der Welt verloren. Statt der einst mächtigen Armee gäbe es heute „nur noch Tränen“. Selbstkritik beschränkt sich auf taktische Fehler. Das Notstandskomitee hätte dem Volk seine Motive erklären müssen, meint Walentin Warennikow. Dass man in Konfrontation zu Jelzin gegangen sei, „war ein Fehler“.Aleksandr Korschakow, der Chef von Jelzins Sicherheitsdienst, meint die Putschisten hätten Jelzin zum Präsidenten der Sowjetunion machen müssen. Das wäre „billiger“ gekommen, als die Auflösung der Sowjetunion. Der Kopf der Putschisten, KGB-Chef Krutschkow, hätte „in Ruhe mit Jelzin sprechen müssen, Gorbatschow absetzen müssen“. Die Archive sind verschlossen. Immer noch blühen Verschwörungstheorien. Für Aleksandr Prochanow,  Herausgeber des sowjet-nostalgischen Blattes „Sawtra“, war der Putsch  „eine Mischung aus einer stümperhaften militärpolitischen Aktion der letzten Kommunisten und einer ausgezeichneten Aktion des amerikanischen Geheimdienstes“. Das Notstandkomitee wäre erfolgreich gewesen, wenn es eine Strategie gehabt und „eine kleine Gruppe von Jelzinisten“ verhaftet hätte. Wenn die Putschisten entschieden gehandelt hätten, stände Russland heute so da wie China. Gorbatschow: „Ich hätte härter sein müssen“ Wenn ihm die Abenteurer einen Tag vor der Unterzeichnung des Unions-Vertrages nicht in die Quere gekommen wären, würde die Sowjetunion noch existieren, so die ewige These von Michail Gorbatschow. Der Ex-Präsident, den das Notstandskomitee auf der Krim festhalten ließ, hat sich selbst nichts vorzuwerfen. „Wir wären den evolutionären Weg gegangen“, schreibt der ehemalige Präsident in einem Beitrag für „Moskowskije Nowosti“. Er wollte eine „Synthese aus dem Besten von Sozialismus und Kapitalismus“. „Ich hätte härter sein müssen. Das hat mir vielleicht gefehlt“, übt Gorbschof heute leise Selbstkritik.
Info-Kasten:Nach drei Tagen war alles vorbeiAm Morgen des 19. August 1991 wurden die Menschen durch eine Radiomeldungen aufgeschreckt. Ein „Staatskomitee für den Ausnahmezustand in der UdSSR“ – fast unaussprechlich: „GKTschP“ - hatte den Notstand ausgerufen. Wie ein Dokumentarfilm des russischen Kanals RTR berichtete, hatten sich führende Kräfte aus Partei und Staat monatelang in geheimen Sitzungen auf diesen Tag vorbereitet. Über 360 Panzer rückten in die Hauptstadt ein. Doch der Präsident Russlands, Boris Jelzin, wurde aus ungeklärten Gründen nicht verhaftet. Jelzin kletterte mittags vor dem „Weißen Haus“ auf einen Panzer. Vor mehreren Tausend Menschen erklärte er, die Entmachtung Gorbatschows sei ein „rechter“ Staatsstreich und rief zum Widerstand auf. Um 17 Uhr begann die Pressekonferenz der Putschisten. Millionen Menschen sahen im Fernsehen, wie dem Anführer der Putschisten Gennadij Janajew die Hände zittern. Jelzin auf dem Panzer – auch diese Bilder werden übertragen – wirkt dagegen rüstig und entschlossen. Dann formiert sich Widerstand. Am 20. August, dem zweiten Tag des Putsches gehen in Moskau, Leningrad und der moldawischen Hauptstadt Kischinjow Hunderttausende auf die Straße. In den Bergwerken von Workuta wird gestreikt. Die Situation eskaliert. Am 21. August werden drei junge Demonstranten von Panzern überrollt. Die Befehlslage im Militär ist unklar. In der Fernsehdokumentation wurde enthüllt, dass Pawel Gratschow, Kommandeur der Luftlandetruppen und später russischer Verteidigungsminister auf Anweisung von KGB-Chef Krutschkow wochenlang an Notstandsplänen  gearbeitet hatte. Doch Gratschow verweigert den Putschisten plötzlich die Gefolgschaft. Vor dem Putsch hatte Jelzin gute Kontakte zu Gratschow aufgebaut.  War das der Grund? Unklar ist auch, warum die Truppen am 21. August  plötzlich abgezogen wurden. Wollten sie mit den Panzern nur einschüchtern aber nicht zuschlagen? Hatten sie Angst vor Chaos? Am 21. August flog KGB-Chef Krutschkow zu Gorbatschow auf die Krim. Der Hausarrest für den sowjetischen Präsidenten wurde aufgehoben. Am 22. August um 2 Uhr nachts trifft Gorbatschow mit dem Flugzeug in Moskau ein. Die Mitglieder des Notstandskomitees werden verhaftet. Am 23.8 wird die rote Fahne auf dem Kreml eingeholt und die russische Trikolore aufgezogen. In den folgenden Tagen erklären zahlreiche Sowjetrepubliken ihre Unabhängigkeit. Der Putsch hatte die Auflösung des Riesenreiches beschleunigt. Antworten auf die offenen Fragen wird es erst nach der Öffnung der Archive geben.  Ende


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