Der lange Weg von Leningrad nach St. Petersburg
Vor 15 Jahren bekam die Stadt ihren alten Namen zurück St. Petersburg (n-ost) - „Von welchem Bahnsteig fährt der Zug nach Petersburg ab?“, frage ich eine Frau, die etwa 40 ist. „Nach Leningrad meinen Sie?“, erwidert sie und zeigt auf den zweiten Bahnsteig. Wir stehen auf der Endstation Kuptschino, mitten drin in einem neuen Hochhausviertel, um uns herum klackern bunte Spielautomaten, Passanten strömen in nagelneue Einkaufszentren. An die „Revolutionswiege“, wie die Stadt zu Sowjetzeiten gerne genannt wurde, erinnert hier wenig. Doch auch heute, 15 Jahre nach der Umbenennung bleibt die Newa-Metropole für manche Petersburger immer noch Leningrad.
Am 6. September 1991 hat der Oberste Rat der UdSSR einen kurzen Erlass verabschiedet: „Der Stadt Leningrad wird ihr historischer Name St. Petersburg zurückgegeben“. Hinter diesem Satz verbirgt sich ein heftiger Streit, der damals in der ganzen Sowjetunion geführt wurde. In der Stadt selbst donnerten Demonstrationen der „Petersburger“ und die Gegendemos der „Leningrader“. „Damals gingen Tausende von Leuten auf die Straßen, heute gibt’s bei uns solche großen Demos nicht mehr“, erzählt Sergej Chachaew, Ratsvorsitzender von „Memorial“ in St- Petersburg. Die Leute von „Memorial“ zählen zu den wenigen, die die Sowjetgeschichte aufarbeiten wollen. „Die Volksabstimmung zur Umbenennung der Stadt am 12. Juni 1991 ist mit der ersten Präsidenten- und Bürgermeisterwahl zusammengefallen. Die Atmosphäre in der Stadt war damals sehr angespannt“, erzählt Chachaew. „Wir waren völlig dafür, die Stadt wieder St. Petersburg zu nennen, da es zur geschichtlichen Gerechtigkeit gehört“, so Chachaew. Mit einer knappen Mehrheit von 54 Prozent der Stimmen, haben die Leningrader damals für die Umbenennung gestimmt. Leningrad lebt - Palast für Arbeiter und Bauern aus der kommunistischen Zeit. Foto: Andreas Metz„Ich habe an der Volksabstimmung 1991 gar nicht teilgenommen“, sagt die 75-jährige Lidia Begaewa. „Aber die Umbenennung halte ich nach wie vor für eine Dummheit: Man kann ja nicht zweimal in denselben Fluss steigen“. Begaewa lebt schon seit mehr als 50 Jahren in der Newa-Stadt und nennt sich „Leningraderin“. „In den 90er Jahren ist eine völlig neue Generation von Petersburgern entstanden. Das sind auch keine Leningrader mehr“, schimpft die Rentnerin auf die Jugend „Diese Generation hat die Höflichkeit, die Alltagskultur, für die Leningrad berühmt war, zum größten Teil verloren.“
Aber auch die Stadt selbst dürfte Lidia Begaewa fremd geworden sein. In den letzen Jahren hat sich das Stadtbild gewandelt: neuer Putz ziert die alten Fassaden. Besonders entlang der Straßen, auf denen Staatsgäste durch die Stadt fahren. Zuletzt kamen diese zahlreich, anlässlich der 300-Jahrfeier Petersburg 2003 und in diesem Jahr während des Gipfels der wichtigsten Industrienationen G8. Seit drei Jahren regiert in der Newa-Stadt Valentina Matwienko, eine Vertraute Präsident Putins. Sie nutzt ihre Kontakte in den Kreml, um Investitionen nach St. Petersburg zu holen. Am Stadtrand entstehen derzeit große Fabriken von Toyota, Bosch, Elcoteq, Knauf und anderen, die die Petersburger Wirtschaft ankurbeln sollen. Die neuen Glaspaläste dringen schon bis ins historische Zentrum vor. Aktuell wird über eine „Gasprom-City“ mit Hochhäusern mitten in der Altstadt spekuliert.
Dabei sind etwa 70 Prozent der alten Petersburger Häuser akut sanierungsbedürftig. Hinter den schönen Fassaden gedeiht noch das Petersburg des Schriftstellers Fjodor Dostojewskij mit unendlichen Ketten von schäbigen Hinterhöfen. „Die üppige und arme Stadt“ – diese Bezeichnung des Autors Nikolai Nekrasow, die schon mehr als 100 Jahre alt ist, trifft auch für das heutige Petersburg zu....und so sieht St. Petersburg aus. Blick auf die Auferstehungskathedrale im Licht der Weißen Nächte. Foto: Andreas Metz„Ich glaube, dass die Stadt dem stolzen Namen St. Petersburg leider immer noch nicht gewachsen ist“, sagt der 34-jährige Künstler Alexander Ischenko. „Es fehlt ihr an einer noblen Kultur, es ist etwas in den menschlichen Beziehungen verloren gegangen, die vielleicht noch zu Leningrader Zeiten da war“. Der Deutsche Historiker Benjamin Schenk, der schon Anfang 90er in der Stadt geforscht hat, glaubt noch diese alten „leningrader“ Verhältnisse mitbekommen zu haben. „Es war eine bestimmte Form vom sozialen Leben in Familien und in Freundeskreisen, wo Feste zusammen gefeiert und Küchengespräche geführt wurden“, meint der Münchner. „Die Leute waren viel ruhiger, haben sich öfters getroffen.“
Drei Mal wurde St. Petersburg seit seiner Gründung im Jahre 1703 umbenannt. „Bei uns kümmert man sich irgendwie mehr um die Umbenennung von Dingen, als um die Umwandlung von Inhalten“, hat einmal der ukrainische Schriftsteller Nikolaj Gogol bemerkt. Das erste Mal erhielt die Stadt einen neuen Namen zu Beginn des ersten Weltkrieges 1914. Der Name der Reichshauptstadt klang plötzlich den russischen Patrioten „zu deutsch“, und St. Petersburg wurde zu Petrograd. Nach Lenins Tod im 1924 wurde Petrograd die Ehre zuteil, den Namen des Revolutionsführers zu tragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Leningrad 900 Tage lang einer Belagerung durch die Deutschen trotzte, kam der Ehrentitel „Heldenstadt“ hinzu. 1991 wurde dann der Stadtname wieder zur Politik. Die Umbenennung in St. Petersburg sollte die Rückkehr zu alten Traditionen einläuten.
Die 27-jährige Enkelin der Rentnerin Begaewa, die auch Lidia heißt, findet, dass der neue alte Name der Stadt einfach besser passt. Ihre Oma könne sie aber auch gut verstehen. „Meine Generation hat einfach nicht die Belagerung und den Wiederaufbau der Stadt miterlebt, der Name Leningrad ist nicht so mit persönlichen Erfahrungen verbunden“. Soziologie-Student Vitalij Rosow ist ebenfalls für „St. Petersburg“. Das klinge einfach besser. Wundern tut er sich aber darüber, dass in seinem neuen Pass unter „Geburtsort“ „St. Petersburg“ eingetragen ist. „Es stimmt einfach nicht, ich bin doch in Leningrad geboren“, sagt er.In St. Petersburg wohnt Vitalij immerhin in der Lenin-Strasse und findet es auch in Ordnung, dass nicht alles umbenannt wurde. St. Petersburg liegt nach wie vor im Leningrader Gebiet, und die Züge von Moskau in die Newa-Stadt fahren vom Leningrader Bahnhof ab. „Mit der Umbenennung der Stadt haben wir damals viele Hoffnungen verbunden. Leider haben sich nicht alle erfüllt“, sagt Sergej Chachaew von „Memorial“. „Die Reformen verlaufen nicht ohne Fehler und vor der Armut vieler Einwohner darf man nicht die Augen verschließen“. Der Weg von Leningrad bis nach St. Petersburg habe sich doch als ein sehr langer herausgestellt. Ende