Russland

Immer neue Zweifel

Angesehener Sprengstoffexperte wirft peinliche Fragen zum Sturm in Beslan aufMoskau (n-ost) – An diesem Wochenende gedenkt die Stadt Beslan wieder dem Massaker in einer Schule, bei dem am 3. September vor zwei Jahren 331 Menschen den Tod fanden. Viele Spenden aus dem In- und Ausland flossen in der Zwischenzeit in den Nordkaukasus. Doch Geld kann das Unglück der Menschen nicht heilen. Sie leiden an den psychischen Folgen. Die Zahl der Krebserkrankungen ist nach dem Geiseldrama sprunghaft gestiegen.Groß ist die Verbitterung über die Sicherheits- und Justizorgane, weil sie nach Meinung vieler wichtige Fragen vertuschen. Die Zahl der Opfer sei nur deshalb so hoch, weil Sicherheitsorgane geschlampt hätten. Die Organisation „Mütter von Beslan“ erklärte deshalb, während der Trauerfeierlichkeiten wolle man keine hohen Politiker und keine Vertreter Staatsanwaltschaft in der Stadt sehen.Das Misstrauen gegenüber den offiziellen Ermittlern ist groß. Nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums glauben 56 Prozent der Russen, dass die Ermittler und Staatsanwälte „unbequeme Fragen“ vor der Öffentlichkeit zu verbergen suchen. 34 Prozent der Befragten glauben, dass es der Macht bei der Geiselbefreidung nur darum ging, „ihr Gesicht zu wahren“, das Schicksal der Geiseln sei ihr „ziemlich egal“ gewesen.
Friedhof von Beslan. Foto: Daniela HaussmannDer russische Geheimdienst, der mit einem eigenen Kommandostab – alternativ zum zivilen Stab - in Beslan vertreten war, setzte offenbar von Anfang an auf einen harten Kurs gegenüber den Geiselnehmern. Die „Nowaja Gaseta“ berichte, dem nordossetischen Präsidenten Aleksandr Dsassochow sei unter Androhung seiner Verhaftung verboten worden, mit den Geiselnehmern in Kontakt zu treten. Dsassochow soll bereit gewesen sein, die Geiseln durch 800 Beamte auszutauschen. Unmittelbar vor dem Sturm auf die Schule hatte auch der tschetschenische Untergrundpräsident Aslan Maschadow vergeblich seine Vermittlerdienste angeboten. Die „Nowaja Gaseta“ berichtete, die Sicherheitsorgane hätten bereits drei Stunden vor dem Terrorakt Informationen über die bevorstehende Geiselnahme gehabt. Die Polizisten hätten die Information während des Verhörs eines Gefangenen in dem tschetschenischen Dorf Schali erhalten aber offenbar nicht weitergeleitet.Sprengstoffexperte legt eigenen Bericht vorJuri Sawjolow, Sprengstoffexperte und Mitglied der Duma-Fraktion der linksnationalistischen Partei „Heimat“ ist der Symphatie für die tschetschenischen Terroristen unverdächtig. Umso Aufsehen erregender sind seine Ermittlungen. Der ehemalige Rektor der St. Petersburger Militär-Universtität „Wojenmecha“ legte kurz vor dem Jahrestag einen eigenen Bericht vor, der den Thesen der parlamentarischen Untersuchungskommission in wesentlichen Punkten widerspricht. Sawjolows Bericht wurde von der „Nowaja Gaseta“ veröffentlicht. Der Text und Zeugenaussagen der Geiseln sind nachzulesen auf der Website http://www.pravdabeslana.ru/.
Der St. Petersburger Sprengstoffexperte beruft sich in seinem Bericht auf eigene Untersuchungen und Zeugenaussagen der Geiseln im Prozess gegen den angeblich einzigen überlebenden Terroristen, den 25jährigen Nurpaschi Kulajew, der zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
 
Nach der offiziellen Version, begannen die Explosionen in der Schule mit der Zündung der Bomben der Terroristen im westlichen Teil des Sportsaales. Den Geiselnehmern seien die Nerven durchgegangen. Sawjolow kommt dagegen zu dem Schluss, dass ein Sondereinsatzkommando des russischen Geheimdienstes die Schule von den umliegenden Dächern aus mit Granatwerfern beschoss. Ziel sei offenbar gewesen, die Terroristen unschädlich zu machen. Durch die Beschießung von außen seien die Explosionen im Gebäude ausgelöst und ein großer Teil der Geiseln getötet worden. Zur ersten Explosion kam es demnach um 13:03 Uhr im Dachboden über dem nordöstlichen Teil des Sportsaals durch den Beschuss mit einer Flammen-Granate. Das Geschoss habe ein Loch im Dach hinterlassen und einen Brand ausgelöst. 22 Sekunden später kam es zu einer zweiten Explosion durch eine von einem Nachbarhaus abgefeuerte Sprenggranate. Juri Sawjolows wichtigster Beweis ist ein 50 Zentimeter großes Loch unterhalb eines Fensters in der Nordseite des Sportsaales. Der Fensterrahmen und der Fußboden in der Nähe der Einschussstelle blieben unversehrt. Nach den offiziellen Ermittlungen explodierte vor dem Fenster eine Bombe der Terroristen. Doch in diesem Fall – so Sawjolow - hätte der Fensterrahmen und der Fußboden beschädigt sein müssen. Die Ergebnisse des Sonderermittlers lassen die parlamentarische Untersuchungskommission schlecht aussehen. Kommissionsmitglied Arkadi Baskajew nennt die Schlüsse Sawjolows daher schlicht „ausgedacht“.Info-KastenDrei Tage in GeiselhaftAm 1. September 2004 um 9:08 fuhren 32 schwerbewaffnete Terroristen in einem Kleinbus und einem PKW auf den Hof der Schule Nr. 1 im nordkaukasischen Beslan. Dort liefen gerade die Feierlichkeiten zum ersten Schultag. Die schwerbewaffneten Geiselnehmer – unter ihnen sind vorwiegend Tschetschenen aber auch Inguschen und Russen - bringen 1.128 Personen in ihre Gewalt und halten sie drei Tage im Sportsaal der Schule gefangen.
Nach offiziellen Angaben gibt es nur einen Überlebenden Terroristen, den zu lebenslanger Lagerhaft verurteilten, Nurpaschi Kulajew. 31 Terroristen seien getötet worden. Augenzeugen wollen jedoch gesehen haben, dass später noch zwei weitere Kleinbusse mit Terroristen auf den Schulhof fuhren. Insgesamt wurden 70 Geiselnehmer gesehen. Demnach gelang der Hälfte der Terroristen die Flucht.
Am zweiten Tag der Geiselnahme erreicht der ehemalige Präsident Inguschetiens, Ruslan Auschew, in Verhandlungen mit der Terroristen die Freilassung von 12 Frauen und 15 Säuglingen. Die Terroristen übergeben Auschew eine handschriftliche Botschaft von Schamil Bassajew. Dieser bekennt sich später als Urheber der Geiselnahme. In dem Schreiben forderte der Oberterrorist den Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Im Gegenzug verspricht er alle Angriff auf Russland einzustellen.
Am 3. September um 13:03 kommt es zur ersten Explosion in der Schule. Zwei Minuten später beginnt das Dach des Sportsaals zu brennen. Doch erst um 15.28 beginnt die Feuerwehr mit Löscharbeiten.
Unmittelbar nach der ersten Explosion beginnen die Sicherheitskräfte mit dem Sturm. Die Terroristen verlegen 300 Geiseln aus dem Sportsaal in andere Gebäudeteile. Die Hälfte dieser Geiseln wird während des Sturms erschossen. Zwischen 13:04 und 13:25 flüchten die Geiseln, die sich noch selbstständig bewegen können, aus der Schule. Überlebende erinnern sich, dass die am Basketball-Korb und an den Stühlen befestigten Bomben der Terroristen nicht explodiert waren. Um 13:15 tauchen Hubschrauber über der Schule auf. Sprengstoffexperte Sawjolow vermutet, dass sie ebenfalls auf die Schule geschossen haben. Um 14:25 gibt nach Augenzeugenberichten einer von insgesamt drei Panzern einen ersten Schuss auf die Schule ab, weitere Schüsse folgen. Das Ziel der Beschießung ist bis heute unklar. Erst um 14:20 – so Sawjolow – explodieren in Folge des Brandes die Bomben der Terroristen.  331 Menschen – über die Hälfe waren Kinder – wurde beim Sturm getötet. Von den 1.128 Geiseln blieben nur 82 unverletzt.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Sicherheitsorgane bei einer Geiselbefreiung das Leben von Geiseln auf Spiel setzen. Im Moskauer „Nord-Ost“-Musical-Theater starben im Oktober 2002 nach dem Einsatz eines Betäubungsgases 120 Menschen durch eine unsachgemäße Evakuierung und fehlende Medikamente.Ende----------------------------------------------------------------
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