Staatsanwaltschaft ermittelt im Polonium-Skandal
Moskau geht in die Offensive
Beamte der russischen Generalstaatsanwaltschaft wollen in London die Litwinenko-Freunde Boris Beresowski und Ahmed Sakajew in London verhören.Moskau (n-ost) – Am Montag kam es in einer Moskauer Klinik zu dem ersten Verhör des russischen Geschäftsmannes und ex-FSB-Offizieres, Andrej Lugowoj, durch die russische Staatsanwaltschaft. Der dreistündigen Vernehmung durften Beamte von Scotland Yard nur beiwohnen. Selbst durften sie keine Fragen stellen. Lugowoj hatte sich seit Ende Oktober zusammen mit seinem Geschäftspartner Dmitri Kowtun, einem ehemaligen Offizier der russischen Armee, in London mehrmals mit dem an einer Polonium-Verstrahlung verstorbenen Aleksandr Litwinenko getroffen. Das Verhör von Lugowoj war mehrmals verschoben worden. Der Geschäftsmann, der heute eine Sicherheitsfirma hat und mit Getränken handelt, wird zur Zeit in einer Moskauer Klinik wegen Verdacht auf eine Polonium-Verseuchung untersucht. Lugowoj hatte erklärt, dass er sich „normal“ fühle. Er habe ein großes Interesse an der Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden, um die Verdächtigungen gegen seine Person aus der Welt zu schaffen. Berater für westliche FirmenDer Polonium-Skandal wird unterdessen immer geheimnisvoller. Wie die russische Internetzeitung newsru.com berichtete, suchten Lugowoj und sein Partner Kowtun mit Hilfe von Litwinenko in London nach Kontakten zu privaten Sicherheitsfirmen. Genannt wurden die Firmen Erinys International und RISC Managment. Erinys ist im Irak bei der Bewachung von Ölanlagen tätig. Im Oktober besuchten Lugowoi und Kowtun zusammen mit Litwinenko die Büros der beiden Firmen. In dem Büro von Erinys wurden Polonium-Spuren gefunden. In einem Interview mit „Radio Echo Moskwy“ hatte Kowtun erklärt, er arbeite als Berater für westliche Firmen, die Kontakte zum russischen Markt suchen. Litwinenko sei für ihn interessant gewesen, weil er „seriöse Kontakte zu seriösen britischen Firmen“ hatte.Moskau bereit zum GegenangriffAm Tag nach dem Tod von Litwinenko hatte Putins Pressesprecher Dmitri Peskow noch erklärt, es sei jetzt „Sache der britischen Behörden“, den Tod aufzuklären. Diese Linie hatte Moskau bis letzten Freitag durchgehalten. Dann kam die Wende, offenbar hervorgerufen durch die Verhöre von Kowtun und den internationalen Druck. Die russische Generalstaatsanwaltschaft erklärte, sie werden nun selbst Ermittlungen aufnehmen. Nach dem dritten Verhör kam die Meldung, Kowtun, der in einer Moskauer Klinik wegen einer schweren Strahlenkrankheit behandelt wird, sei in ein schweres Koma gefallen. Die Meldung wurde allerdings dementiert. Das Verhör von Kowtun in Moskau hatte vermutlich auch die Deutschen Behörden aufmerksam gemacht. Kowtun war über Hamburg nach London geflogen. Am Freitag fanden deutsche Sicherheitsbeamte in einer Wohnung in Hamburg-Ottensen Polonium-Spuren. Die Sprecherin der russischen Generalstaatsanwaltschaft, Marina Gridnjewa, erklärte am Freitag überraschend, es gäbe Grund zur Annahme, „dass Kowtun und der Bürger der Russischen Föderation Aleksander Litwinenko mit radioaktiven Nukliden vergiftet wurden.“ Putins große Geste von Helsinki, der Fall Litwinenko sei Sache der britischen Behörden, löst sich nun in Luft auf. Putin hatte wie schon oft in Krisen zur Gegenattacke ausgeholt und vor „Provokationen“ aus dem Ausland gewarnt. Dabei hatten schon unmittelbar nach dem Tod Litwinenkos erfahrene russische Geheimdienstler für einen offenen Kurs in den Ermittlungen plädiert. Der ehemalige Generalmajor des KGB und jetziges Mitglied der KP-Fraktion, Aleksej Kondaurow, erklärte gegenüber „Radio Echo Moskwy“ an einer „vollständigen Zusammenarbeit“ mit den Spezialisten von Scotland Yard habe „insbesondere Putin“ ein Interesse. Der ex-General meinte, hinter dem Tod von Litwinenko ständen möglicherweise Mächte wie China oder der Iran, „welche die Position von Putin schwächen oder ihn vom Westen zu sich herüberziehen wollen.“ Russland will ermittelnRussland geht in der Informationsschlacht um den Polonium-Skandal offenbar jetzt zum Gegenangriff über. Genüsslich zitierte der russische Staatskanal RTR die Aussage von Marina Litwinenko, der Frau des Toten, nach der Putin selbst mit dem Mord nichts zu tun habe.
Die russische Staatsanwaltschaft will nun selbst in London ermitteln. Dass sich die von der russischen Staatsanwaltschaft gewünschten Gesprächspartner, wie Boris Beresowski und der ehemalige tschetschenische Kulturminister den russischen Beamten stellen, ist allerdings höchst unwahrscheinlich. Litwinenkos Ehefrau hat schon erklärt, dass sie nicht für ein Verhör zur Verfügung stehe. Doch Moskau will sich offenbar durch offensives Vorgehen von Verdächtigungen reinwaschen.
Die vom Kreml gesteuerten russischen Medien behaupten, Litwinenko habe den tschetschenischen Separatisten beim Bau einer schmutzigen Bombe helfen wollen. Die einzigen Beweise: Litwinenko war mit dem tschetschenischen Emigranten Sakajew befreundet und trat kurz vor seinem Tod zum Islam über. Moskau fordert schon seit langem die Auslieferung von Beresowski und Sakajew. Beide genießen in Großbritannien politisches Asyl. Putin - Garant gegen Turbulenzen?In Moskau wird heftig darüber spekuliert, inwieweit die Polonium-Affäre mit den Präsidentschaftswahlen 2008 zu tun hat. Der Politologe Stanislaw Belkowski, das Sprachrohr des Kreml-Hardliners und stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, Igor Setschin, behauptete, hinter der Vergiftung von Litwinenko ständen liberale Kreise, welche Putin zu einem offensiveren Vorgehen gegen Setschin drängen wollten. Putin solle möglichst schnell seinen Nachfolger nennen, um Setschin zurückzudrängen. Möglicherweise ist der Angriff auf die Liberalen ein Manöver, mit dem die Geheimdienstfraktion im Kreml von einer eigenen Verwicklung in den Mord an Litwinenko ablenken will. Wie dem auch sei, Kommentatoren in Moskau halten es für möglich, dass Putin angesichts der Polonium-Krise das Steuer herumreist und doch noch einmal als Kandidat zu den Präsidentschaftswahlen antritt. Der Präsident könnte das mit den „äußeren Gefahren“ begründen, die Russland in Folge der Polonium-Krise drohen. Ob Putins Machtübergabe an den stellvertretenden Präsidialamtsleiter Dmitri Medwedjew oder Verteidigungsminister Sergej Iwanow glimpflich verläuft, scheint nach der Mord-Welle der letzten zwei Monate nicht mehr so wahrscheinlich. Offenbar macht sich unter den verschiedenen Machtgruppen im Land Nervosität breit. Das erinnert an das wilde Jahr 1998 als Jelzin sterbenskrank war und nacheinander drei verschiedene Ministerpräsidenten ernannte. Russland schlitterte damals auch noch in eine katastrophale Finanzkrise. Damals verloren viele Mittelständler ihr Vermögen. Die Erinnerungen an das Krisenjahr 1998 sind noch frisch. Möglicherweise bringt Putin sich jetzt als Garant gegen innenpolitische Turbulenzen in Stellung. Ende----------------------------------------------------------------------------------
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