Russland

Russlands Gewissen unter Verdacht

Moskauer Staatsanwaltschaft ermittelt wegen der Veröffentlichung eines Rechtsratgebers für Klagen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof

Moskau (n-ost) – Die international bekannte russische Menschenrechtsorganisation Memorial wurde in einem  Schreiben der Moskauer Staatsanwaltschaft aufgefordert, Rechenschaft über die Veröffentlichung eines im Januar 2006 veröffentlichten  Rechtsratgebers zu leisten. Die Staatsanwälte fordern die Vorlage aller Rechnungen für die Herausgabe des Buches. Die Staatsanwaltschaft möchte außerdem wissen, „welchen praktischen Anteil“ die Menschenrechtsorganisation bei der Herausgabe des Buches hatte und „wie dieser sich ausdrückte“.Der 475-Seiten starke Ratgeber wurde von Phillip Leach geschrieben, einem führenden Menschenrechtsexperten der Londoner Metropolitan University. Das Buch gibt Rat für Klagen vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Finanziert wurde der Ratgeber von der Europäischen Union. Das Buch - mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren - war vor allem bei Juristen und Menschenrechtsorganisationen heiß begehrt und ist auch auf der Website von Memorial einsehbar. Der Memorial-Vorsitzende Oleg Orlow gibt sich gelassen. Man habe nichts zu verbergen, erklärt er. Für Klagen vor dem Menschrechtsgerichtshof in Straßburg hat die Europäische Union 80.000 Dollar Finanzhilfe bereitgestellt, davon wurden 11.000 Dollar für die Veröffentlichung des Rechts-Ratgebers verwendet. Orlow vermutet, dass die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft von „nicht sehr klugen“ Duma-Abgeordneten initiiert wurden. Ermittlungen gegen Flüchtlings-OrganisationParallel zu den Ermittlungen gegen Memorial liefen in den letzten Wochen Ermittlungen der Moskauer Staatsanwaltschaft gegen die von der bekannten Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina geleitete Organisation „Bürger-Beistand“, die politische Flüchtlinge aus dem Kaukasus und Mittelasien betreut. Die Staatsanwaltschaft verwarnte die Gannuschkina, weil der „Bürger-Beistand“ Flüchtlingen eine Art Schutzbrief zur Vorlage bei der Polizei ausstellt. Dieser sei „irreführend“, so die Staatsanwälte.Wie sich herausstellte, waren die Ermittlungen gegen die Organisation „Bürger-Beistand“ von dem Duma-Abgeordneten Nikolaj Kurjanowitsch initiiert worden. Dieser behauptete, die Menschenrechtsorganisation würde Flüchtlinge mit kriminellem Hintergrund decken. Der Duma-Abgeordnete ist in Moskau kein Unbekannter. Er gehört zu den Organisatoren von „Russischer Marsch“, ein Bündnis rechtsradikaler Gruppen.  Aus der Liberaldemokratischen Partei des Ultranationalisten Wladimir Schirinowski wurde Kurjanowitsch wegen zahlreicher Eskapaden ausgeschlossen.Menschenrechtler der ersten StundeDie Zeiten in Russland haben sich sichtlich geändert. Nicht nur politisch ambitionierten Milliardären geht es an den Kragen, sondern jetzt auch der einzigen Organisation der Gulag-Überlebenden, den Menschenrechtlern der ersten Stunde. Memorial war 1988 – zu Hochzeiten der Perestroika - auf Initiative des Kernphysikers, Dissidenten und Nobelpreisträgers Andrej Sacharow gegründet worden. Auf Initiative von Memorial wurde 1991 das erste Gesetz zur Entschädigung politisch Verfolgter ausgearbeitet und verabschiedet. Die Organisation leistet seitdem eine international anerkannte Arbeit bei der Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit und beim Schutz der Menschenrechte von Tschetschenen, Flüchtlingen und Umweltschützern. Insgesamt wandten sich seit 1998 90.000 russische Staatsbürger an den Europäischen Menschengerichtshof, um elementarste Rechte durchzusetzen.
     
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