Russland

Lenins sagenhafte Zugreise durch Deutschland

Vor 90 Jahren, am 8. April 1917, begann der russische Revolutionär und Führer der Bolschewisten Wladimir Lenin eine Zugreise, die das Gesicht der Welt verändern sollte: Die Tour führte in einem verplombten Waggon von Zürich aus quer über das Territorium des damaligen russischen Kriegsgegners Deutschland bis nach Sassnitz auf Rügen. Dort nahm Lenin die Fähre nach Schweden, um schließlich weiter über Finnland bis nach Petrograd, dem früheren Leningrad und heutigen St. Petersburg zu gelangen.Fast zehn Jahre hatte Lenin bis dahin im westlichen Exil verbringen müssen, in das er nach der erfolglosen russischen Revolution von 1905-07 geflüchtet war. Die meiste Zeit lebte er in der Schweiz - in Genf, Bern und zuletzt in Zürich. Hier erfuhr 1917 aus den Zeitungen von der revolutionären Lage in Russland, von der Februarrevolution und der Abdankung des letzten Zaren Nikolaj II. und beschloss zusammen mit anderen kommunistischen Exilanten, umgehend nach Russland zurückzukehren.
Schneebedeckte Lenin-Büste. Foto: Tino KünzelDies sei mitten im Ersten Weltkrieg von der Schweiz aus ein schwieriges Problem gewesen, betont der russische Historiker Georgi Wernadski. Deutschland habe als Kriegsgegner Russlands allen Russen die Einreise verboten. An einen Linienflug war 1917 noch nicht zu denken. Eine andere Möglichkeit, die russische Heimat zu erreichen, wäre nur der Umweg über Frankreich oder England gewesen, die sich als Alliierte Russlands in einer Entente gegen Deutschland und Österreich zusammengeschlossen hatten. Doch es lag nicht im Interesse von Russlands Verbündeten, russischen Revolutionären die Rückkehr zu ermöglichen. Blieb nur der Weg über Deutschland.Am 8. April 1917 verließ Lenin mit 30 anderen russischen Immigranten, darunter Karl Radek, Grigori Sinowjew, Lenins Frau Nadeschda Krupskaja und als Reiseleiter der Schweizer Fritz Platten in einem versiegelten Zugwagon die Schweiz. Der Wagen wurde von zwei deutschen Offizieren bewacht. Der Aufenthaltsbereich der russischen Reisenden war mit Kreide markiert und galt als exterritoriales Gelände. Lenin hatte darauf bestanden, dass die Exilanten die Reisekosten selbst trugen und nicht von Deutschen angesprochen wurden. Am 16. April kam der Treck in Petrograd an. "Kein Geschoss war weittragender und schicksalsentscheidender in der neueren Geschichte, als dieser Zug", schreibt Stefan Zweig in seinen "Sternstunden der Menschheit". Warum erlaubte die deutsche Regierung Lenin und anderen russischen Revolutionären die Fahrt über ihr Territorium?Laut offizieller Darstellung der deutschen Regierung kam die Vermittlung zwischen den russischen Exilpolitikern und der kaiserlichen Macht durch die schweizerischen Sozialisten Grimm und Platten zustande. Nach Aussagen von Philipp Scheidemann, dem damaligen Führer der deutschen Sozialdemokraten und späterer Reichskanzler, wurde die Passage der russischen Exilpolitiker dagegen durch Deutschland von Alexander Parvus organisiert. Auch der russische Publizist Pjotr Romanow betont die Rolle Parvus, eines aus Russland stammenden Geschäftsmannes und Marxisten, der später die deutsche Staatsangehörigkeit annahm.Parvus hatte bereits 1915 versucht, in Berlin deutsche Unterstützung für die Boschewiki zu organisieren. 1917 konnte er die im dritten Kriegswinter stark unter Druck stehende deutsche Regierung offenbar davon überzeugen, dass Lenin ein wichtiger Verbündeter im Krieg gegen Russland werden könnte. Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges rief Lenin dazu auf, sich gegen die eigene Regierung  zu wenden und den imperialistischen Krieg in eine proletarische Revolution umzuwandeln. Jede sozialdemokratische Partei müsse eine Niederlage in Kauf nehmen, um einen Umsturz herbeizuführen, erklärte Lenin.Nach einer These Georgi Wernadskis könnte die Verständigung zwischen Lenin und der deutschen Regierung schon nach einem Zwischenfall in Österreich im Jahre 1914 ihren Anfang genommen haben. Vor der kriegerischen Auseinandersetzung mit Russland, lebte Lenin in einem kleinen österreichischen Dorf. Kurz nach Kriegsbeginn wurde er festgenommen. Er wurde verdächtigt für die russische Regierung zu arbeiten. Der Führer der österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler half Lenin bald wieder frei zu kommen: Er überzeugte die Regierung in Österreich davon, dass Lenin ein strenger Feind des Zaren-Regimes sei und später einmal im Krieg gegen Russland nützlich werden könnte. Die defätistische Position des Führers der Bolschewisten passte jetzt gut zu den deutschen Interessen. Eine bolschewistische Revolution könnte Russlands Niederlage besiegeln und die feindliche Entente entscheidend schwächen.Die weiteren politische Entwicklungen in Russland erfüllten tatsächlich die deutschen Erwartungen: Bereits am Tag der Oktoberrevolution 1917 erließ Lenin als Vorsitzender des Sowjets der Volkskommissare das "Dekret über den Frieden", das den Austritt Russlands aus dem Krieg erklärte. Die Friedensverhandlungen zwischen Lenins Regierung und Berlin endeten mit einem Friedensvertrag, der am 3. März 1918 in Brest-Litowsk unterschrieben wurde. Nach dem Inhalt des Vertrags verlor Russland die Kontrolle über die baltischen Staaten, Finnland, Polen, die Ukraine, sowie über einen Teil Weißrusslands und Ostanatoliens. Außerdem musste Russland eine Kontribution in Höhe von sechs Millionen Reichsmark an Deutschland zahlen. Nach der Kriegsniederlage Deutschlands, erklärte Russland den Vertrag für nichtig und verzichtete auf die Erfüllung der vereinbarten Vertragspflichten. Trotzdem blieben die genannten Territorien von Russland weitgehend getrennt.      Bis heute ist die Diskussionen darüber nicht zu Ende, ob die Oktoberrevolution 1917 in Russland seitens Deutschlands auch finanziell unterstützt wurde. Wernadski und der bekannte sowjetrussische Historiker Dmitri Wolkogonow bringen wieder Parvus ins Gespräch, der die Bolschewisten über den polnischen Sozialdemokraten Jakob Ganetzki finanziell unterstützt haben soll. Die Bolschewisten, wie auch Lenin selbst, schwiegen dazu. In den 1990er Jahren versuchte einer der bekanntesten russischen Fernseherjournalisten Jewgenij Kiseljow erneut die Finanzierungshypothese mit einem Dokument der Deutschen Reichsbank zu untermauern, in dem von Ausgaben über fünf Millionen Reichsmark für "den Frieden in Russland" gesprochen wird. Manche sprechen sogar von einem deutschen Beitrag von vierzig bis fünfzig Millionen Reichsmark in Gold. Lenins versiegelter Zug habe auf seinem Weg in Berlin gehalten und sei mit Reserven der Reichsbank beladen worden. Doch die meisten Historiker lehnen diese Finanzierungshypothese der Oktoberrevolution ab.*** Ende ***-------------------------------------------------------
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