Ukraine

Juschtschenkos Gegner erobern Kiew

Wenn es stimmt, dass Revolutionen in den Hauptstädten entschieden werden, dann war für Wiktor Juschtschenko, den westlich orientierten Präsidenten der Ukraine, gestern ein schlechter Tag. 45.000 Menschen demonstrierten auf dem "Maidan", dem "Platz der Unabhängigkeit" im Stadtzentrum gegen die vom Präsidenten verfügte Auflösung des Parlaments. Die Demonstranten waren in Sonderzügen aus dem Osten und Süden der Ukraine nach Kiew gebracht worden. Sie campieren in Zelten in der Innenstadt. Eine große Bühne auf dem "Maidan" gehört jetzt nicht den Orange-Farbenen sondern ausgerechnet den "Hellblauen", den Anhängern von Ministerpräsident Viktor Janukowitsch. Vor der Bühne wehten die hellblauen Fahnen der russlandfreundlichen "Partei der Regionen", die roten Fahnen der Kommunisten und die rosaroten Flaggen der Sozialisten.

Entlassungen aus dem Nationalen Sicherheitsrates

Dienstagabend hatte sich Wiktor Juschtschenko, der sein Land in die EU und die Nato führen will, mit seinen Rivalen, Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch und Parlamentssprecher Oleksandr Moros getroffen. Das viereinhalbstündige Gespräch endete ergebnislos. Ein zweites Treffen war für Mittwochabend angesetzt. Nach dem Treffen am Dienstag erklärte Juschtschenko vieldeutig: "Als Oberkommandierender der Streitkräfte der Ukraine lasse ich keine gewaltsame Entwicklung zu." Das Vertrauen zwischen Juschtschenko und der Parlamentsmehrheit ist jedoch offenbar völlig zerrüttet. Juschtschenko verkleinerte den Nationalen Sicherheitsrat. Parlamentssprecher Oleskandr Moros, Geheimdienstchef Walentin Naliwajtschenko und der Leiter der Truppen des Innenministeriums, Aleskandr Kichgenko, wurde aus dem Gremium entlassen. Die Regierung steht mehrheitlich hinter Janukowitsch, der Verteidigungs- und der Innenminister haben jedoch erklärt, sie würden nur die Befehle des Präsidenten ausführen.

Machtkampf um das Verfassungsgericht

Gestern konzentrierte sich der ukrainische Machtkampf um das Verfassungsgericht. Die Parlamentsmehrheit hatte das Verfassungsgericht angerufen, das Präsidenten-Dekret zur Auflösung des Parlaments zu prüfen. Die von Janukowitsch geführte Regierungskoalition hat die Hoffnung, dass das Verfassungsgericht, das Auflösungs-Dekret zurückweist. Doch der Vorsitzende des Gerichts, Iwan Dombrowski, wollte sich offenbar nicht in den politischen Streit hineinziehen lassen. Dombrowski befinde sich im Krankenhaus, meldete die ukrainische Nachrichtenagentur Unian gestern. Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts wollte von seinem Amt zurücktreten - erklärte Janukowitsch -, der Apparat des Präsidenten habe Druck auf ihn ausgeübt. Parlamentssprecher Oleksandr Moros rief Dombrowski von der Parlamentsbühne zum Durchhalten auf. "Sie müssen diese Last tragen. Und reden sie sich nicht damit heraus, dass es schwer ist." Das Verfassungsgericht nahm den Rücktritt seines Vorsitzenden nicht an. Dombrowski selbst hat seinen Rücktritt nicht kommentiert.

"Harte Reaktion nötig"

In einem Gastbeitrag für die Financial Times begründete Juschtschenko die Auflösung des Parlaments. Die Regierungskoalition habe versucht "die Macht zu monopolisieren" und die "junge ukrainische Demokratie" damit in eine Krise gestürzt. Deshalb sei eine "harte und unverzügliche" Reaktion seitens des Präsidenten nötig. Der Wechsel einzelner Abgeordneter aus dem Lager des Präsidenten zu der von Janukowitsch geführten Koalition widerspreche der Verfassung.

Im August letzten Jahres hatte Juschtschenko seinen Rivalen Janukowitsch noch zähneknirschend  zum Ministerpräsidenten ernannt. Das orange-farbene Lager war selbst zerstritten und nicht stark genug die Regierung zu bilden. Vor der Ernennung hatte der Präsident seinem Rivalen noch ein klares Bekenntnis zur West-Integration des Landes abgerungen. Aber Janukowitsch wollte sich von Juschtschenko nicht an die Leine legen lassen und baute seine Macht immer mehr aus. Über die Ernennung des Außenministers gab es wochenlangen Streit mit dem Präsidenten.

Man sollte sich nicht täuschen lassen. Trotz der Demonstranten auf dem Maidan agiert die politische Klasse in der Ukraine isoliert vom Volk. Hinter den Kulissen geht es um wirtschaftliche und außenpolitische Interessen, Lobby-Bildung im Parlament und gutdotierte Abgeordneten-Sitze. Für die andauernden Machtkämpfe in Kiew haben die Menschen immer weniger Verständnis.


Weitere Artikel