Tausende verabschieden sich von Boris Jelzin
Moskau (n-ost) - Es war wie eine Ironie der Geschichte. Als sich der Sarg von Boris Jelzin in die Erde senkte und vor der Mauer des Moskauer Neu-Jungfrauen-Friedhofs die Salutschüsse dröhnten, erklang die Melodie der Sowjet-Hymne. Der Verstorbene hatte sie 1991, nach seiner Wahl zum russischen Präsidenten und der anschießenden Zerschlagung der kommunistischen Partei, durch eine Komposition des russischen Komponisten Michail Glinka ersetzt. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin aber führte die alte Sowjet-Hymne im Jahr 2000 wieder ein - mit einem neuen, demokratisch angepassten Text. Zusammen mit seiner Frau Ljudmilla stand Putin mit steinernem Gesicht am Grab Jelzins, der ihm das Amt in der Sylvesternacht 1999 übertragen hatte.Zärtlich strich Naina Jelzina ihrem Mann übers Gesicht und küsste ihn ein letztes Mal. Es war eine ergreifend, intime Szene. Die ausländischen Staatsgäste, unter ihnen George Bush senior, John Major und Horst Köhler, wirkten dabei fast deplaziert.
Trauernde Menschen vor der Erlöserkirche. Foto: Dana RitzmannHeld für drei TageNachdem die staatlichen russischen Fernsehkanäle erst relativ knapp über den Tod von Jelzin berichtet hatten, wurden die Fernsehberichte über das Leben von Jelzin in den letzten Tagen immer länger. Der fast schon vergessene Jelzin, der still und abgeschieden auf einer Datscha vor den Toren von Moskau gelebt hatte, wurde für ein paar Tage wieder zum Helden.Auch Wladimir Putin suchte zunächst nach den richtigen Worten. Erst fünf Stunden nach der Meldung von Jelzins Tod trat der Kreml-Chef mit einer Fernsehansprache vor das Volk. Er würdigte den Verstorbenen als den Mann, der Russland Freiheit und Demokratie gebracht habe. Die russischen Kommunisten entschieden sich dagegen für demonstrativen Protest. Bei einer Trauerminute im Parlament blieben sie auf ihren Plätzen sitzen. "Wir werden niemals den Zerstörer des Vaterlandes ehren", erklärte der KP-Abgeordnete Viktor Iljuchin.Die drei staatlichen Kanäle übertrugen die Trauerfeierlichkeiten drei Stunden lang live. Man zeigte auch Bilder aus Jelzins Privatleben und Schlüsselbilder aus seinem politischen Leben, so die Szene, wo Jelzin und Gorbatschow sich direkt am Rednerpult streiten und Bilder von den Verhandlungen mit einem tschetschenischen Separatistenführer 1996 im Kreml. Der Kanal RTR zeigte Jelzins Rede während der Beisetzung der sterblichen Überreste der Zarenfamilie in der Peter-Paul-Kirche in St. Petersburg. Jelzin brach damals ein Tabu, als er die Russen in Erinnerung an den feigen Mord an der Zarenfamilie zu "Buße und Verständigung" aufrief. All diese Bilder hatten etwas Pikantes. Herrscht doch heute in Putins Russland eine übermäßige Selbstzufriedenheit.
Ein alter Mitstreiter von Jelzin verabschiedet sich. Foto: Dana RitzmannPatriarch fehltNach dem Trauergottesdienst in der Erlöser-Kathedrale, die auf Geheiß Stalins gesprengt und in den 90er Jahren mit großer Hilfe Jelzins wieder aufgebaut worden war, wurde der Sarg auf einer mit der russischen Trikolore geschmückten Lafette im Schritttempo von einem Schützenpanzerwagen zum Neu-Jungfrauen-Friedhof gezogen. Hier liegen auch die Frau von Gorbatschow, Raissa, sowie Sowjetführer Chruschtschow und andere Prominente.Es war ein ergreifendes Schauspiel. Die Glocken der Kathedrale läuteten, eine Kapelle spielte Trauermärsche, Tausende standen am Straßenrand unter den gerade ergrünten Bäumen. Viele wischten sich Tränen aus den Augen. Hinter dem Sarg gingen in weißen Gewändern die drei Metropoliten Kirill, Juvenali und Kliment, die den Trauergottesdienst geleitet hatten. Der russische Patriarch Aleksej der II., der sonst bei großen religiösen Festen die Zeremonie leitet, nahm aus unbekannten Gründen nicht an der Trauerfeierlichkeit teil. Seit der Beerdigung von Zar Aleksander III, vor 113 Jahren, war es das erste Mal, dass ein russisches Staatsoberhaupt nach orthodoxem Ritus beerdigt wurde.Einfache Russen suchen nach Worten
Zehntausende Bürger nahmen von Boris Jelzin Abschied. Die Menschen suchten mühsam nach Worten. Die Schlange vor der Kathedrale war 500 Meter lang. Gekommen waren vor allem Menschen über 40. Viele trugen rote Rosen und Nelken, die sie später nicht weit vom Sarg ablegten. Viele waren darunter, die schon in den 1990er Jahren an der Seite von Boris Jelzin standen. Unter den Trauernden waren aber auch viele einfache Bürger, die in Jelzin einfach nur einen starken russischen Führer sehen. Anna Georgijewna, eine 72-jährige Rentnerin meint schlicht, sie wolle sich "von dem ersten Präsidenten Russlands" verabschieden. "Meine Jugend habe ich unter ihm erlebt", sagt die alte Dame in dem hellen Sommermantel. Und wenn Jelzin nicht gewesen wäre, was wäre dann aus Russland geworden? "Vielleicht wäre es besser vielleicht schlechter gewesen." Anna Georgijewna weiß das nicht so genau. Es ist ihr scheinbar auch gar nicht so wichtig.
Die Menschen in der Schlange stehen mit ernsten Gesichtern. Plötzlich um Punkt 12 Uhr Mittags kommt Hektik auf. Polizisten schieben Absperrgitter in die Schlange. "Jetzt ist Schluss", erklärt ein Polizist. Viele Bürger drängen von hinten nach, sie wollen Jelzin noch sehen. Es kommt zum Gedränge. Über die Trauergemeinde hallen plötzlich Schreie. Ein Fotograph macht ein paar Fotos. Sofort ist ein Sicherheitsbeamter an seiner Seite. Er fordert den Mann auf, die Fotos zu löschen. Dann beruhigt sich die Menge wieder.
Viktor Viktorowitsch, ein ehemaliger Militär meint, Boris Jelzin sei ein "großer Krieger" gewesen. "Er hat das Volk vor Totalitarismus und Dunkelheit gerettet. Boris Nikolajewitsch ist wie Moses, der die Menschen aus ägyptischer Gefangenschaft befreite."
Elisaweta, eine 75 Jahre alte ehemalige Gesangslehrerin meint, der Verstorbene sei ein mutiger, starker Mann, ein "Russki Podwischnik" (Enthusiast) gewesen. Sein Hauptverdienst? "Er hat die persönliche Freiheit der Menschen durchgesetzt. Nun haben wir einen stabilen Staat." Jelzin kam aus einem Dorf. "Na und? Es gibt in den russischen Dörfern einige solcher Goldstücke. Denken sie nur an den Gründer der Moskauer Universität, Lomonossow." Außerdem habe Jelzin dafür gesorgt, dass es keine Verfolgungen mehr gab. "Mein Vater war Offizier. Im Bürgerkrieg gehörte er zu den Weißen. Während der Sowjetzeit durfte er nicht reisen. Auch ich bekam meine Herkunft immer zu spüren."
Eine Englischlehrerin, eingehüllt in einen dicken schwarzen Pullover meint, die Jahre unter Jelzin seien für sie die glücklichsten gewesen. "Man fühlte sich als Mensch. Man fühlte, dass man etwas machen konnte. Es gab etwas Helles, eine Aufbruchstimmung." Mit zitternder stimme fügt die 48jährige hinzu, "in den ersten Jahren seiner Präsidentschaft hatte ich väterliche Gefühle zu ihm. Ich fühlte mich ruhig. Es gab keine Angst. Jetzt gibt es so was". Das Wort Angst möchte sie nicht aussprechen, aber es liegt ihr auf den Lippen.
Ein älterer Mann, Lehrer an einer technischen Hochschule, meint, "sein Hauptverdienst war, dass es keinen großen Bürgerkrieg gab." Wir er das gemacht hat? Der Mann weiß keine Antwort. Dann schießt es aus ihm heraus: "Gott hat uns wohl gehört. Wir Russen sind ein leidendes Volk."Ende---------------------------------------------------------------------------
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