Russland

"Zu früh für ein Vermächtnis"

Moskau (n-ost) - Während seines gestrigen Berichtes zur Lage der Nation umriss Russlands Präsident Wladimir Putin gigantische wirtschaftliche und soziale Aufgaben, vor denen das Land stehe. Obwohl Putin im Frühjahr 2008 seinen Posten räumen muss, war es alles andere als eine Abschiedsrede.Der Kreml-Chef kündigte an, Russland werde als Antwort auf die amerikanischen Pläne zur Raketenabwehr in Europa aus dem Vertrag 1990 zwischen den Nato-Ländern und dem Warschauer Pakt beschlossenen Vertrag über konventionelle Rüstungsbegrenzung (KSE) aussteigen. Putin beklagte, dass die Nato-Länder eine 1999 beschlossene Anpassung des KSE-Vertrages, die nicht mehr auf der Block-Konfrontation basiert, nicht ratifiziert haben. Die Nato-Staaten hatten die Ratifizierung mit Hinweis auf den nicht erfolgten Abzug russischer Truppen aus Moldau und Georgien ausgesetzt. Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer antwortete sogleich, die Allianz wolle mit Russland über den KSE-Vertrag sprechen. Man habe Interesse an einer Einigung. Auf Putins Kritik an den US-Raketenabwehr-Plänen in Osteuropa ging der Nato-Generalsekretär nicht ein."Lehrmeister Jelzin"Wie jedes Jahr hatte Russlands Präsident die Abgeordneten beider Parlamentskammern, Gouverneure und Vertreter des öffentlichen Lebens in den Kreml gerufen. Gleich zu Anfang seiner Rede würdigte Putin seinen Vorgänger Boris Jelzin. Der Saal erhob sich zu einer Schweigeminute. Zum Vermächtnis von Jelzin gehöre der "direkte, offene Dialog" der Staatsmacht "mit den Menschen", erklärte der Kreml-Chef. Die Jelzin-Zeit sei "schwierig" gewesen, aber damals sei "das Fundament für die Zukunft" gelegt worden. Eine neue Nationalbibliothek soll den Namen des Verstorbenen tragen.Die Äußerungen standen in auffälligem Kontrast zur Personal-Politik des Kreml in den letzten Jahren. Fast alle einflussreichen Beamten, die Jelzin nahe standen, mussten inzwischen die Präsidialverwaltung verlassen."Ausländische Einmischung"Scharf ging Putin mit denen ins Gericht, die in den letzten Monaten unter Führung des Ex-Schachweltmeisters Garri Kasparow für ein "Anderes Russland" demonstrierten. Ohne Kasparow beim Namen zu nennen, meinte der Kreml-Chef, es gäbe Leute, die mit "pseudodemokratischen Phrasen in die Vergangenheit zurück wollen". Gemeint waren damit die 90er Jahre. Man wolle, "wie früher die nationalen Reichtümer rauben" und erreichen, dass Russland seine "wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit" verliert. Es gäbe den Versuch sich direkt in die "inneren Angelegenheiten Russlands" einzumischen. Aus dem Ausland wachse der "Geldfluss". Putin malte ein drastisches Bild. Der einzige Unterschied zur "Kolonialzeit" sei, dass man heute "demokratische Losungen" verwende.Nebulöses über die ZukunftErst ganz am Ende seines Lage-Berichts kam der Kreml-Chef auf das Ende seiner Amtszeit zu sprechen. Die "Jahresbotschaft" im nächsten Jahr werde "ein anderes Staatsoberhaupt" halten, seine Amtszeit laufe im Frühjahr 2008 aus. Für ein "politisches Vermächtnis", erklärte Putin vieldeutig, sei es aber "zu früh". Der Saal quittierte die Äußerung mit Applaus. Mit den beiden stellvertretenden Ministerpräsidenten Sergej Iwanow und Dmitri Medwedjew sind zwar schon zwei Nachfolger von Putin im Gespräch, aber bisher war unklar, ob der Kreml-Chef nicht doch noch einmal antritt, denn die Forderungen einflussreicher Politiker nach einer dritten Amtszeit wollen nicht verstummen.Riesiger StrombedarfDer Kreml-Chef umriss gigantische Aufgaben, vor denen Russland steht. Man müsse den Schiff- und Flugzeugbau retten und die Häfen modernisieren. Mehrmals ging Putin scharf mit dem russischen Regierungskabinett ins Gericht. Er habe den Eindruck, dass die Regierung "absichtlich" nichts zur Modernisierung der Häfen tue. Die Wirtschaft wachse. Das Angebot an Elektroenergie müsse bis 2020 um zwei Drittel gesteigert werden. Zur Förderung der Atomenergie soll ein neues Unternehmen geschaffen werden, welches sich auch um "die staatlichen Interessen bei der Landesverteidigung" kümmern soll.Über die Hälfte der Russen lebten in renovierungsbedürftigen Wohnungen, beschrieb Putin die angespannte Lage im Wohnungssektor. Wie sich der Staat in der Wohnungsfrage verhalte, sei "amoralisch", insbesondere vor dem Hintergrund hoher Einnahmen im Öl- und Gasgeschäft. Übermäßige Bürokratie behindere Reformen und neue Eigentumsformen. Der Kreml-Chef schlug vor, dass für die Modernisierung des Wohnungssektors nötige Kapital unter anderem durch den Verkauf von Aktien des Ölkonzerns Jukos zu beschaffen. Das Unternehmen, das einst vom nun inhaftierten Oligarchen Michail Chodorkowski geführt wurde, trägt immer noch Steuerschulden ab.Ende---------------------------------------------------------------------------
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