Letztes Jahr war die Welt noch "in Ordnung"
Moskau (n-ost) - Die russischen Fernsehzuschauer werden seit Wochen auf
den Gipfel in Heiligendamm eingestimmt. Über die Gipfel-Themen,
Mecklenburg im Allgemeinen und Heiligendamm im Besonderen, erfahren die
Bürger nichts, dafür werden sie mit akribischer Gründlichkeit über die
Gipfel-Vorbereitungen der Krawallmacher informiert. Krawalle am 1. Mai
in Kreuzberg, Fußball-Randale am St. Pauli Stadion, Wasserwerfer an der
Roten Flora, dass russische Fernsehen liefert aufregend-gruselige
Bild-Berichte. Dass die Deutschen kontrovers über die
Gipfel-Sicherheitsmaßnahmen diskutieren, wird den russischen
Fernsehzuschauern verschwiegen. Sie erfahren auch nichts über die
Forderungen gemäßigter Gipfel-Kritiker, nichts über den Attac-Beitritt
von Heiner Geißler und die plötzliche Sympathie Wolfgang Schäubles für
die Globalisierungskritiker.
Liberale
russische Zeitungen sind skeptisch hinsichtlich eines Gipfel-Erfolgs.
Die nationalliberale "Nesawissimaja Gaseta" bemängelt die
"nichtadäquate Struktur" der G8. Solange China, Indien und Brasilien
nicht Mitglieder der G8 seien, könne die Organisation die selbst
gestellten Aufgaben nicht lösen. China stehe immerhin "auf dem ersten
Platz im Welthandel" und gehöre schon deshalb in die G8. Russland
erwartet vom Gipfel in Heiligendamm offenbar nichts Besonderes. Die
USA, so schreibt das Blatt, hätten neben dem "allgemeinen" ein "eigenes
Programm". Der durch den Irak-Krieg geschwächte amerikanische
Präsident, werde alle Initiativen ablehnen, "welche ihm in seinem Land
keine politischen Dividenden bringen."
Die liberale Zeitung
"Wremja Nowostej" hält einen Misserfolg des Gipfels für möglich. In der
Frage der Klimapolitik gäbe es große Differenzen zwischen Merkel und
Bush. "Ganze Absätze" der Abschlusserklärung stünden "in Klammern",
weiß das Blatt unter Hinweis auf anonyme "Quellen in der G8" zu
berichten. Für Russland habe der Konflikt um die Klimapolitik "keine
kritische Bedeutung". Moskau sei bereit, sich im Prozess des
Kyoto-Protokolls "weiter zu bewegen". Das russische Parlament hatte das
Kyoto-Protokoll im Oktober 2004 ratifiziert. Danach musste Russland
kein Geld für umweltschonende Technologie ausgeben. Im Gegenteil: Wegen
der seit 1990 gesunkenen Industrieproduktion gehen von Russland
geringere klimagefährdende Effekte aus. Russland konnte deshalb nach
Inkrafttreten des Protokolls "Verschmutzungsrechte" an andere
Industrieländer verkaufen.
Letztes Jahr hatte Russland die
G8-Ratspräsidentschaft. Der Gipfel fand in St. Petersburg statt. Es gab
zwar keine durchschlagenden Beschlüsse zur Energiepolitik und zum Kampf
gegen Infektionskrankheiten, trotzdem war der Gipfel in St. Petersburg
aus Sicht des Kremls ein Image-Erfolg für Russland. Man hatte extra die
amerikanische PR-Agentur Ketchum eingespannt. Die PR-Experten aus den
USA halfen, Russland im besten Licht zu zeigen. In St. Petersburg hatte
sich George Bush in einem Vier-Augen-Gespräch mit Putin noch gegen
einen russischen WTO-Beitritt ausgesprochen. Inzwischen haben sich
Russland und die USA auf den russischen Beitritt zu der
Welthandelsorganisation geeinigt. Doch nun schießen Georgien und Polen
quer. Ob der G8-Gipfel für Russland den erhofften Durchbruch zur
WTO-Mitgliedschaft bringt, ist daher unsicher.
Ende
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Ulrich Heyden