"Vivian ist ein gutes Mädchen"
Moskau (n-ost) - "Halt´ sie unter fließend Wasser", ruft Jekaterina Petuschkowa, als Vivian die Weintrauben in einem Topf abwäscht. Die 83jährige Jekaterina war "Usnik", Zwangsarbeiterin im Frauen-KZ Ravensbrück in Brandenburg. Jetzt lehrt sie ihre 20jährige Helferin aus Deutschland die russischen Sitten. Früchte muss man in Russland zuerst von den Bakterien befreien. Wer weiß, wer sie alles schon in den Händen gehabt hat. Der Wasserverbrauch spielt da keine Rolle. Vivian schweigt und macht es, wie die alte Dame es wünscht.
Die ehemalige Zwangsarbeiterin Jekaterina mit Vivian, ihrer deutschen Betreuerin
Ulrich HeydenDie junge Berlinerin ist für ein Jahr nach Moskau gekommen, um im Rahmen eines freiwilligen sozialen Jahres NS- und Gulag-Opfern im Haushalt zu helfen. Die Kritik in der Küche erträgt Vivian mit Seelenruhe. Sie schätzt die alte Frau, die 1942 als 18jährige aus dem ukrainischen Saparoschje zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurde und jetzt an Krebs leidet. Jekaterinas rechter Arm ist dick geschwollen. "Es sind die Lymphdrüsen", meint die alte Frau. "Mir tut der ganze Körper weh."Jekaterina ist einer von vier alten Menschen, welche die junge Berlinerin mit den langen schwarzen Haaren und den aufmerksamen Augen betreut. Bei Jekaterina werde viel und häufig gegessen, meint Vivian. Zum Besuch des deutschen Korrespondenten hat Jekaterina selbst die Wohnung sauber gemacht und den Tisch gedeckt. "Ich habe Vivian frei gegeben." Ein Besuch ist etwas ganz Besonders. Man muss viel Essen. Kaum ruht die Gabel, ruft die alte Dame, "kuschai, kuschai!" (iss, iss!).Die Hungerjahre im KZ kann sie nicht vergessen. "Einmal am Tag gab es eine Brühe. Das war alles. Ich ging hungrig Schlafen und wachte hungrig auf." Alles ist noch ziemlich präsent. Die deutschen Schimpfwörter "verflucht" und "Affen" kann sie ganz korrekt aussprechen. Die SS-Aufseherinnen hätten die Zwangsarbeiterinnen als "Affen" beschimpft, sie mit der Peitsche zum Appell getrieben und Hunde auf die Frauen gehetzt. Die vier Jahre in den Baracken haben die Frauen zusammengeschmiedet. Noch heute kann sich Jekaterina die Gesichter ihre Mithäftlinge beschreiben, sie erinnert sich an Namen, ja sogar an einige Adressen der Mitgefangenen.Trotzdem hat sie auf die Deutschen keinen Hass. Das hat Vivian zu Anfang ihrer Arbeit richtig irritiert. "Damals herrschte Faschismus", erklärt Jekaterina, so als ob damit alles gesagt sei. Als sie ein fragendes Gesicht sieht, fügt sie hinzu, "auch viele Deutsche sind gestorben."Mit 18 verschlepptIm Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg montierte Jekaterina Granaten, "für unsere Brüder und Schwestern", sagt sie lakonisch. Als sie im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde, verliebte sie sich in den Soldaten Viktor aus Moskau. Sie heirateten und zogen in die Hauptstadt. Jekaterina arbeitete bei der Verwaltung der Eisenbahn. Die Arbeit bekam sie nur, weil sie verschwieg, dass sie Zwangsarbeiterin war. Zwangsarbeiter galten in der Stalin-Zeit als Verräter.1993 starb Viktor. Seitdem wohnt Jekaterina alleine. Kinder hat sie nicht. Ein Kind wurde tot geboren. Natürlich hätte sie gerne Kinder gehabt, aber sie sei wohl nicht mehr gesund gewesen, als sie aus dem KZ kam.Die Einsamkeit macht ihr schwer zu schaffen. Auch das hat Vivian gewundert. "Ich dachte, in Russland gibt es keine Einsamkeit und die Leute leben zusammen, wie auf dem Land."Von der Auszahlung rechtzeitig erfahrenDass Deutschland ehemalige Zwangsarbeiter entschädigt, hat die alte Frau zum Glück rechtzeitig erfahren. Jekaterina gehört einer Vereinigung ehemaliger Zwangsarbeiter an. Da ist man immer gut informiert. Die alte Dame bekam 3.000 Euro in zwei Raten. "Das war eine große Freude", sagt sie. Wegen ihrer Krankheit braucht sie viele Medikamente. Die Ärzte hätten ihr aber schon signalisiert, dass es bald zuende gehe. Ihr Ton ist bitter. Früher, in der Sowjetunion, hätten die Ärzte mehr Achtung vor alten Leuten gehabt, meint die alte Dame. Obwohl sie nie Parteimitglied war, ist ihr die neue Zeit in Vielem fremd.Über ihre junge Helferin sagt die alte Frau nur Gutes. "Wenn ich mich schlecht fühle, sagt Vivian, ´bleiben sie ruhig sitzen, ich mache alles´. Sie ist ein gutes Mädchen." Vivian guckt kurz auf und lächelt. Während wir uns unterhalten, tippt sie eifrig ein paar SMS. Die Leidensgeschichte von Jekaterina kennt sie schon.Elf deutsche Freiwillige"Vielen ehemaligen Zwangsarbeitern wurde keine Entschädigung gezahlt", meint Jelisaweta Dshirikowa. Die energische Frau mit den lockigen Haaren hat im Norden von Moskau in Eigeninitiative die Sozialstation "Sostradanije" (Mitgefühl) aufgebaut. Für die Station arbeiten elf junge Deutsche, die in Moskau ein freiwilliges soziales Jahr ableisten. Zu der deutschen Gruppe, die gemeinsam in einer Groß-WG im Südosten Moskaus lebt, gehört auch Vivian. Die deutschen Jugendlichen, die über Aktion Sühnezeichen und das Berliner Jugendaufbauwerk nach Moskau gekommen sind, betreuen jeweils bis zu fünf alte Menschen. Die jungen Leute leben zusammen in einer Groß-WG im Südosten Moskaus. Einsam ist man dort nicht. "Manchmal sind mir dort zu viel Leute", meint Vivian. Aber das junge Mädchen genießt es, das erste Mal für längere Zeit in der Fremde zu sein. Russland findet sie sehr interessant. Sie war schon in St. Petersburg und demnächst fährt sie mit den anderen Jugendlichen an den Baikal-See zum Zelten.Mit den Deutschen laufe die Zusammenarbeit sehr gut, meint Sozialarbeiterin Jelisaweta. Die Sozialstation, welche heute 180 ehemalige Zwangsarbeiter und Gulag-Häftlinge betreut, wird seit drei Jahren vom deutschen Fond "Erinnerung und Zukunft" gefördert und bekommt auch in den nächsten Jahren noch Geld vom deutschen Fond.Viele ehemalige Zwangsarbeiter seien nicht informiert worden, dass es Entschädigungen aus Deutschland gibt, meint die Sozialarbeiterin. Das liege auch am Stadt-Land-Gefälle. "Viele Zwangsarbeiter wohnen in kleinen Dörfern am Rande der Stadt. Oft haben sie noch nicht mal einen Wasser- oder Gasanschluss, geschweige denn Radio oder Fernsehen." Die deutsche Stiftung habe da "keine Schuld". Für die Information der alten Menschen und die Auszahlung war die Moskauer Partnerorganisation, die Stiftung "Verständigung und Versöhnung" zuständig. Doch die habe schlecht informiert.Verstrahlt in der UrananreicherungJelisaweta versucht jetzt mit ihren Mitteln, die Fehler auszubügeln. So hat sie in das Betreuungsprogramm von "Sostradanije" extra viele ehemalige Zwangsarbeiter aufgenommen, die keine Entschädigung erhalten haben. Dazu gehören siebzig ehemalige Zwangsarbeiter aus dem Moskauer Umland, die meist in kleinen Orten leben, wie etwa die Zwangsarbeiter aus dem westlich von Moskau gelegenen Ort Elektrostal. Sie waren als Kinder von Zwangsarbeitern mit nach Deutschland verschleppt worden. Nach dem Krieg wurden sie zusammen mit ihren Eltern in einem sogenannten "Disziplinierungslager" im Ort Elektrostal angesiedelt. Dort arbeiteten die Eltern und später auch die Kinder in einer Fabrik für Urananreicherung, "ohne jeglichen Schutz", wie Jelisaweta betont. Viele Kinder der Zwangsarbeiter litten deshalb heute an Krebs.Hilfe beim PapierkriegBei alten Menschen, die bettlägerig sind oder nur noch schwer Laufen oder Sehen können, helfen bei "Sostradanije" zusätzlich zwei Krankenschwestern und zwei Ärzte. "Das schlimmste für die alten Leute ist, wenn sie nicht mehr Sehen oder vom Bett aufstehen können. Alles andere überleben sie", meint Jelisaweta.Eigentlich sind die staatlichen Polikliniken verpflichtet, den alten Menschen zu helfen. Aber insbesondere im Moskauer Umland klappt das nicht. Außerdem müssen die alten Leute, um ärztliche Hilfe und Betreuung zu bekommen, einen ganzen Berg Dokumente ausfüllen. Auf den russischen Fond "Verständigung und Versöhnung" ist Sozialarbeiterin Jelisaweta nicht gut zu sprechen. "In Russland findet sich immer Jemand, der etwas klaut", stellt sie nüchtern fest, geht aber nicht ins Detail.Im Jahr 2001 machte der russische Fond Schlagzeilen. Prüfungen hatten ergeben, dass in den 90er Jahren 111 Mio. Mark aus Deutschland unterschlagen worden waren. Das Geld war für NS-Opfer bestimmt und ging bei mysteriösen Operationen von Banken und durch Auszahlungen an Nichtberechtigte verloren. Seitdem habe es aber keine Unregelmäßigkeiten mehr gegeben, erklärte Martin Salm, Vorstandsmitglied der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" gegenüber dieser Zeitung. In den letzten sieben Jahren sei alles korrekt gelaufen. Dafür sorgten auch die Kontrollen, die das international anerkannte Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG vor Ort in Moskau durchführte, so Salm.Für Jelisaweta sind die Fehler der Vergangenheit kein Grund zum Lamentieren. Im Gegenteil, jetzt gehe es darum, die Lebensbedingungen der noch lebenden Zwangsarbeiter zu verbessern. Die energische Frau hat große Pläne. Sie will eine Leihstation für moderne Rollstühle, multifunktionale Betten, Spezial-Matratzen und Bio-Toiletten aufbauen. Jelisaweta sprüht vor Tatendrang. Man spürt, dass sie sich für die alten Leute persönlich verantwortlich fühlt. "Wir können nicht verhindern, dass die Menschen älter werden, aber wir können ihnen helfen, nicht bitter zu werden."
Info-Kasten
12 Millionen Zwangsarbeiter12 Millionen Zwangsarbeiter mussten während der NS-Zeit in deutschen Arbeitslagern, KZs, in Privatunternehmen und auf Bauernhöfen schuften.
Der größte Teil der Zwangsarbeiter kam aus der Sowjetunion und Polen. Ein großer Teil der Zwangsarbeiter waren Juden.
Die Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion wurden besonders schlecht ernährt und mussten besonders hart arbeiten. Sie galten als "Untermenschen". Ihr Tod war praktisch mit einkalkuliert.
1,6 Millionen ehemalige Zwangsarbeiter in über 100 Ländern bekamen von der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in den letzten sieben Jahren Entschädigungszahlungen.
An 228.000 ehemalige Zwangsarbeiter in Russland wurden Summen von 2.500 Euro (Zwangsarbeiter) bis zu 7.500 Euro (Sklavenarbeiter im KZ) ausgezahlt.
Der gesamte von der Bundesregierung und der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft zur Verfügung gestellte Betrag von 4,3 Mrd. Euro wurde von den ehemaligen Zwangsarbeitern abgerufen.Ende---------------------------------------------------------------------------
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