Russland

Totgeschwiegen

Wie Gerichte, Politiker und Medien in Russland rassistische Übergriffe gegen Ausländer unter den Teppich kehrenKrasnodar (n-ost) - Am 13. Juni 2007 verurteilte das Landgericht im südrussischen Krasnodar den 19-jährigen Sergej Iwanizkij wegen eines bewaffneten Überfalls auf den Sudanesen Machdschud Ali Babikir, Student an der Krasnodarer Staatlichen Universität Kuban. Der Täter muss wegen versuchten Mordes und Diebstahls für elf Jahre hinter Gitter. Der Fall Ali Babikir ist kein Einzelfall, denn in Russland vergeht besonders seit einer pogromartigen Auseinandersetzung zwischen Russen und Tschetschenen in der Kleinstadt Kondopoga im September 2006 kaum eine Woche ohne rassistisch motivierte Gewalt.


Student der Krasnodarer Universität
Dennis MaschmannSo stachen in der Nacht zum 11. Juli 2007 Unbekannte in Moskau einen Mann aus der südrussischen Republik Dagestan mit dem Messer nieder. Am 1. Juli wurde in Sankt Petersburg wegen seines „nicht-slawischen“ Äußeren der 23-Jährige Damir Sainullin von einer Gruppe von 20 jugendlichen Skinheads zusammengeschlagen und von einer jungen Frau mit dem Messer getötet. Und im April gestand ein 18-jähriger Skinhead, innerhalb eines Jahres 37 Morde an Kaukasiern und Asiaten in Moskau begangen zu haben. Er habe die Kaukasier „hingerichtet“, um „die Stadt zu säubern“. Wie das Moskauer „Zentrum für Information und Analyse“ SOWA mitteilt, wuchs die Zahl rassistisch und neonazistisch motivierter Überfälle und Gewalt in Russland im Herbst 2006 und Frühjahr 2007 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 30 Prozent. In den ersten vier Monaten des Jahres 2007 wurden demzufolge 172 Menschen Opfer rassistisch motivierter Gewalt, 23 von ihnen kamen ums Leben. Amnesty International weist im aktuellen Jahresbericht über Russland auf den zunehmenden Fremdenhass hin und kritisiert die vergleichsweise milden Urteile gegen die Täter.Der Fall des sudanesischen Studenten Ali Babikir ist typisch: Wie in vielen ähnlich gelagerten Verfahren in Russland wurde vom Landgericht Krasnodar der seit 2004 bestehende Artikel 282 des Strafgesetzbuches zur „Verhinderung extremistischer Tätigkeit“ nicht angewandt. Dieser Artikel stellt unter anderem die Verbreitung rassistischen Gedankenguts sowie Übergriffe mit nationalistischem oder rassistischem Hintergrund unter Strafe. Das Institut SOWA urteilt: „Es ist offensichtlich, dass die Eindämmung von Hass-Verbrechen nicht zu den Prioritäten des Rechtsschutz-Systems gehört.“Ali Babikir und der Täter Iwanizkij trafen sich am Abend des 4. Juli 2006 auf der Straße, es kam zu einem Wortwechsel, dann zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung. Der Angreifer stach den Sudanesen mehrfach mit dem Messer und stahl ihm sein Handy. Um drei Uhr nachts wurde Ali Babikir gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Der Sudanese lag nach der Tat in Folge starken Blutverlustes mehrere Wochen im Koma.Am nächsten Tag gelang es der Polizei den Täter festzunehmen: Er hatte Anrufe auf das Handy seines Opfers beantwortet und konnte geortet werden. Freunde von Ali Babikir, die den Studenten vermissten und auf dessen Handy anriefen, erhielten die Auskunft einer unbekannten Stimme: „Ich bin ein Skinhead aus Moskau. Wenn ihr wollt, bringe ich auch euch um.“ Im Verlauf der Untersuchungen durch die Staatsanwaltschaft Krasnodar wurden dann einige Landsleute Ali Babikirs vorgeladen. Während ihres Gesprächs zeigte ihnen Staatsanwalt Wiktorow den Studentenausweis des Täters Iwanizkijs – mit den blitzförmig geschriebenen Buchstaben „SS“ auf der Rückseite. Anklage gegen Iwanizkij erhob die Staatsanwaltschaft Krasnodar zunächst wegen schwerer Körperverletzung, dann wegen versuchten Mordes und Diebstahls – nicht jedoch wegen eines rassistisch oder nationalistisch motivierten Vergehens. Das Analysezentrum SOWA vermutet dahinter eine systematische Praxis russischer Strafverfolger: „Es besteht bis heute keine Verpflichtung zur Registrierung des Verdachts auf ein Hass-Motiv, was in der Mehrheit der Fälle ermöglicht, einer Verfolgung eines Verbrechens als ein Hass-Verbrechen zu vermeiden.“Auch wenn von der Justiz nicht anerkannt und von Politikern und Verwaltung unter den Teppich gekehrt: rassistisch und rechtsextremistisch motivierten Verbrechen können in Russland alle zum Opfer fallen, die „nicht-slawisch“ aussehen. Dies stützt auch eine Untersuchung der Krasnodarer Nichtregierungsorganisation ETnIKA in Zusammenarbeit mit Gruppen in Moskau und Sankt Petersburg. Demnach fühlen sich mehr als drei von vier afrikanischen und jeder zweite ausländische Student in Russland diskriminiert; die Studenten fürchten sich außerhalb des Campus vor Übergriffen und viele haben Konflikte am eigenen Leib erlebt.Diese Ergebnisse präsentierte ETnNIKA im Januar 2007 im Rahmen eines Runden Tisches der Krasnodarer Öffentlichkeit. Anwesend war dabei, neben mehreren Fernseh- und Rundfunkteams, auch der Leiter der Abteilung für Auslandsangelegenheiten der Universitäten der Stadt Krasnodar, Alexandr Waschenko. Nach Angaben der Präsidentin von ETnIKA, Anastasja Denisowa, verstand Waschenko die Veranstaltung als direkten Angriff auf seine Arbeit. Über Handy habe er einen ausländischen Studenten zum Runden Tisch bestellt, der dann vor den laufenden Kameras aussagte, wie gut es ihm in Krasnodar gehe und dass er sich keineswegs diskriminiert fühle. Für die Fernsehanstalten war dies Beweis genug, dass es im Fall Ali Babikir um Hooliganismus und Diebstahl, nicht aber um Rechtsextremismus ging.Nicht lange nach dieser Veranstaltung erhielt Anastasja Denisowa von der Föderalen Registrierungsbehörde für Nichtregierungsorganisationen und zugleich von den (formal unabhängig arbeitenden) Finanzbehörden Bekanntmachungen über bevorstehende Kontrollen. Es folgte zudem eine Aufforderung zur Überstellung von Dokumenten, Vertreter der Organisation wurden wiederholt zu Gesprächen vorgeladen. „Unsere Arbeit kam in den vergangenen Monaten fast zum Erliegen“, berichtete darüber ETnIKA-Mitglied Ljubow Penjugalowa. Statt sich inhaltlich als „Jugendgruppe für Toleranz“ betätigen zu können, sind die ETnIKA-Mitarbeiter laut Peniugalowa bis heute damit beschäftigt, immer weitere Erklärungen, Quittungen und Unterlagen für die Behörden vorzulegen.Unterdessen hat auch die Stadt Krasnodar eine Studie über die Situation ausländischer Studenten erstellen lassen. Alexandr Waschenko, der sich beim Runden Tisch in die Defensive gedrängt gesehen hatte, präsentiert die Ergebnisse: Fast alle ausländischen Studenten, inklusive der Afrikaner, fühlen sich wohl in Krasnodar. Fast niemand hat Angst, sich in der Stadt frei zu bewegen. Wenn es Konflikte gibt, dann nicht wegen der Nationalität. Und sein Mitarbeiter Jurij Matiuschkin meint: „Ausländer sind in Krasnodar nicht gefährdeter als Russen auch.“Spricht man mit Studenten direkt, hört man anderes. Ein Student aus dem Tschad, der seinen Namen nicht preisgeben möchte, erklärt auf dem Krasnodarer Universitätscampus folgendes: „Ja natürlich werden Schwarze hier diskriminiert. Ich habe sogar Angst, den Campus zu verlassen und auf die Straße zu gehen.“ Zum Fall Machdschud sagt der Student mit leiser Stimme: „Darüber möchte ich lieber nicht sprechen.“Die Opfer schweigen aus Angst und die Öffentlichkeit weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Von einer öffentlichen Debatte über den wachsenden Rassismus ist Russland noch weit entfernt.
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Dennis Maschmann


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