Die verschwiegene Revolution
Nur leise erinnert der Kreml an den 7. November 1917Es gab eine Zeit, da war das gesamte Moskauer „Museum für Zeitgeschichte“ der Oktoberrevolution gewidmet. Heute sind die Heldentaten von einst nur noch einen einzigen Saal wert. Der immerhin empfängt den Besucher nach wie vor sehr feierlich: In der Mitte des Raums steht ein mit rotem Stoff bespanntes Stahlgerüst in der Form eines fünfzackigen Sterns, darunter ein Maschinengewehr. Plakate künden von der nahenden Weltrevolution. In den Glas-Vitrinen sieht man die Hinterlassenschaft der Revolutionäre, einen Matrosen-Kittel, den Schreibtisch des Chef- Organisators, darauf ein Marx-Porträt, Pistolen und Maschinengewehre.
Der letzte feierliche Saal im ehemaligen Revolutionsmuseum
Ulrich Heyden
„In unser Museum kommen vor allem Ausländer“, meint Vera Naumowna, die den Saal betreut. Ängstlich verdeckt die kleine, schmächtige Frau zunächst mit dem weißen Haar ihr Namensschild. Doch dann redet sie munter drauf los. Die heutige Jugend interessiere sich nur noch für Geld. Dabei sei doch „nicht alles schlecht gewesen, damals.“ Die russischen Revolutionäre liebt Vera Naumowna wie Filmstars. Den Matrosen Pawel Dybenko zum Beispiel. „Sieht er nicht gut aus?“, fragt sie und zeigt auf sein Bild. Der kräftige Mann mit Kinnbart leitete im Oktober 1917 die Verlegung der Kriegsschiffe in die Hauptstadt Petrograd, das heutige St. Petersburg. Er war ein einfacher Matrose und mit Aleksandra Kolontai verheiratet. Die Revolutionärin stammte aus einer Adelsfamilie und gehörte zum engeren Kreis um Lenin. Tja, die Revolution machte es möglich: der Soldat und die Adelige. Während des Bürgerkriegs war Dybenko im Süden Russlands stationiert. Dort habe er es mit den Frauen „wild getrieben“, erzählt Vera. Sie weiß einiges mehr als das, was in den Vitrinen ausgestellt ist. Die alte Dame zeigt Porträts von Lenins Geliebter, der hübschen Inessa Armand, und von Lenins Frau, der etwas herberen Nadjeschda Krupskaja. Affären sind, so scheint es, das Gewürz der Revolution. Im Nachbarsaal geht es um den Bürgerkrieg, der in Folge der Revolution begann. „Hier hängt alles durcheinander“, schimpft die Aufseherin. Früher sei alles ordentlich getrennt gewesen, die Bilder der roten Generäle auf der einen und die der Weißen auf der anderen Seite. „Nun verliert man den Überblick.“ In den Schaukästen hängen die Porträts der Verfeindeten nebeneinander: der „weiße“ Generals Kornilow neben Lew Trotzki als Oberkommandierender der Roten Armee und Anarchistenführer Nestor Machno mit dicker Pelzmütze. In einer anderen Ecke hängt die Zarenfamilie, darunter eine Zeichnung des Kellers, in dem sie erschossen wurde. „Auf Beschluss der sowjetischen Macht in Jekaterinenburg“, erklärt der Begleittext. Nicht weit vom ehemaligen Revolutionsmuseum liegt in einer unterirdischen Einkaufspassage direkt gegenüber der Metro-Station Puschkinskaja der Parfümerieladen „Arbat-Prestige“. Zehntausende strömen hier täglich vorbei. Im riesigen Schaufenster der Parfümerie werben stattliche Matrosen auf roten Transparenten für eine „Sommerrevolution der Preise“. Die Vorbeieilenden scheint das kaum zu interessieren.Symbole der Revolution haben einen festen Platz in der russischen Werbung. Und nicht nur das. Bewusst oder unbewusst gelten die Hauptfiguren der Oktoberrevolution trotz aller Veränderungen, die das Land durchlaufen hat, immer noch als Helden. Andere Helden aus der Zeit gibt es nicht oder sie sind nicht bekannt. Der Zar eignet sich schlecht, seit er nach der Februarrevolution kraftlos abdankte. Dem Kreml hingegen scheint das Thema Oktoberrevolution unangenehm zu sein. „Am Besten nicht darüber reden“, ist vermutlich die Devise. Das verstärkte sich noch, nachdem bunte Revolutionen in Georgien und der Ukraine einen Machtwechsel einleiteten. Den offiziellen Feiertag am 7. November hatte schon Ex-Präsident Boris Jelzin in „Tag der Eintracht und Versöhnung“ umbenannt. Wladimir Putin kippte den Feiertag 2004 schließlich ganz und führte stattdessen den „Tag der nationalen Einheit“ am 4. November ein. Angeblich wurde Moskau 1612 an diesem Tag von der polnischen Besatzung befreit. Aber so ganz genau weiß das offenbar keiner. „Das war am 7. November“, argumentierte zum Beispiel Kommunisten-Chef Gennadij Sjuganow in der Hoffnung, den von ihm so geliebten 7. November zu retten.
Eine Moskauer Parfümerie wirbt der „Sommerrevolution der Preise“.
Ulrich Heyden
Trotz aller Verdrängung: Als Export-Schlager eignet sich die Oktoberrevolution immer noch bestens. Voller Stolz berichtet Eduard Danilowitsch, der Archiv-Leiter des ehemaligen Lenin-Museums am Roten Platz, er sei ständig mit Exponaten im Ausland unterwegs, zuletzt bei der Ausstellung „Traumfabrik Kommunismus“ in Frankfurt am Main. Der Archivar hängt mit viel Herzblut an seinen Exponaten: an Lenins Mantel, seinem Rolls Royce und dem Holzmodell des ersten Lenin-Mausoleums. Dass es in Moskau keine große Ausstellung zum 90. Jubiläum der Revolution gibt, bedauert Danilowitsch sehr.Das Einzige, was der Öffentlichkeit in diesen Tagen geboten wird, ist eine kleine Sonder-Ausstellung unter dem Titel „Mythen der Revolution“ im Moskauer Museum der Föderalen Archive. Einige sowjetische Mythen wurden schon in den 60er Jahren in Zweifel gezogen. Der Schuss des Panzerkreuzers Aurora, hieß es, sei nicht scharf gewesen, sondern wahrscheinlich ein Leerschuss. Und den Sturm auf den Winterpalast, den Eisenstein in seinem berühmten Film zeigte, habe es gar nicht gegeben. Kraftlos habe sich die Provisorische Regierung unter Alexander Kerenski ergeben. Inzwischen sind neue Mythen entstanden. Die Revolution sei etwas „Fremdes“, etwas von außen Eingeschlepptes, lautet eine in Russland weit verbreitete Meinung. Sie habe das Land von seinem „natürlichen Weg“ abgebracht. So wird die Zeit vor der Revolution im Nachhinein idealisiert. Vor zwei großen Ölgemälden hat sich im Museum eine Gruppe amerikanischer Studenten versammelt. Sie tuscheln aufgeregt, denn was sie sehen, gibt Rätsel auf: Die beiden Gemälde zeigen das gleiche Ereignis, Lenins ersten Auftritt vor dem Arbeiter- und Soldatenrat von Petrograd. Beide Bilder malte Konstantin Juon, eins 1927, das andere 1935. Auf dem ersten Bild stehen hinter Lenin zehn führende Bolschewiki, unter ihnen Lew Trotzki und Lew Kamenew. Auf dem zweiten Bild sind Lenins Kampfgefährten auf vier Personen zusammengeschrumpft, darunter Josef Stalin, Geheimdienstchef Felix Dserschinski und der spätere Außenminister Wjatscheslaw Molotow. Die auf dem Bild Getilgten waren 1935 entweder bereits verhaftet oder warteten auf ihre Verhaftung. Für das zweite Gemälde „bekam Juon eine Datscha und durfte ins Ausland reisen“, erklärt der Lehrer aus den USA seinen Studenten. Eine ältere Russin mischt sich ein. Es gehöre zur „Freiheit des Künstlers“, sein Bild so zu gestalten, „wie er es empfindet.“ Am Ausgang des Museums steht Wladimir Aleksandrowitsch. Der 53-jährige Ökonom ist ein Geschichtsnarr. Er lässt keine Ausstellung aus und kauft sich ständig neue Bücher. Was ihm der 7. November bedeute? „Das ist die Erinnerung an meine Jugend“, sagt er. In Moskau war dieser Tag früher arbeitsfrei und es gab eine große Demonstration. „Wir liefen von der Uni in einem Sternmarsch zum Stadtzentrum. Manch einer hatte eine Flasche Wodka dabei, zum Aufwärmen.“ Abends feierte Wladimir bei einem der beiden Großväter, beide Zeitzeugen der Revolution. Auch in diesem Jahr werde er zum Jubiläum an die frische Luft gehen, sagt er. Allerdings nur mit seinem Hund zu einem Spaziergang. ENDE