Juschtschenko zwischen Teufel und Beelzebub
Seit nunmehr fast acht Monaten ist die Ukraine ohne handlungsfähiges Parlament. Am Freitag soll die bereits am 30. September gewählte neue "Werchowna Rada" nun endlich zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammenkommen. Obwohl seit der Wahl fast zwei Monate des Blockierens, Taktierens und Verhandelns vergangen sind, wird sich wohl erst während dieser Sitzung erweisen, wie die neuen Mehrheitsverhältnisse am Dnepr tatsächlich aussehen. Kurz nach der Wahl schien noch klar, dass die neue Regierungschefin Julia Timoschenko heißen würde und die Kräfte der Orangenen Revolution eine Koalition mit einer knappen Mehrheit von 228 der 450 Stimmen bilden würden. Inzwischen aber ist der Name Timoschenko immer seltener zu hören und ein Koalitionsvertrag noch immer nicht unterzeichnet.
Bereits am 2. April hatte Präsident Wiktor Juschtschenko die Auflösung des Parlaments angeordnet. Vor allem die regierende "Partei der Regionen" hatte zuvor versucht, durch den Fraktionswechsel von Abgeordneten neue Mehrheiten im Parlament zu schaffen, die mit dem ursprünglichen Wahlergebnis nichts mehr zu tun hatten. Diese Praxis wollte Juschtschenko beenden. Auf den Erlass des Präsidenten folgte jedoch keineswegs die Auflösung des Parlaments, sondern zunächst ein wochenlanges Tauziehen über die Frage, ob der Präsident überhaupt berechtigt sei, diesen Schritt anzuordnen.
Nachdem Juschtschenko die Neuwahlen schließlich durchgesetzt hatte, brachten sie dennoch nicht die ersehnte Klärung. Die "Partei der Regionen" von Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch wurde zwar durch das Ausscheiden der Sozialisten aus dem Parlament der Möglichkeit beraubt, eine eigene Mehrheit zu bilden. Sie blieb aber mit 34,4 Prozent der Stimmen und 175 Sitzen trotzdem stärkste Kraft in der neuen "Werchowna Rada". Die Janukowitsch-Partei beharrt seither darauf, dass sie als stärkste politische Kraft an der Regierung beteiligt sein müsse und ihr überdies das Recht zukomme, den neuen Premierminister zu stellen. Doch die Blockade durch die "Partei der Regionen" ist längst nicht der einzige Grund, weshalb eine neue Orangene Koalition bislang nicht zu Stande gekommen ist. Vielmehr zeigt sich, dass Juschtschenkos Wahlbündnis "Unsere Ukraine - Nationale Selbstverteidigung" zersplittert ist zwischen den Befürwortern einer Koalition mit Revolutionsführerin Julia Timoschenko und denen eines Bündnisses mit Ex-Premier Janukowitsch. Timoschenko ist dabei die eigentliche Gewinnerin der Wahl. Ihr Bündnis konnte sein Wahlergebnis zwischen 2006 und 2007 von 22,3 auf 30,7 Prozent verbessern.
Wahlkampfplakate in Kiew / Clemens Hoffmann, n-ost
Juschtschenko notierte hingegen mit "Unsere Ukraine" 2006 wie 2007 bei nur circa 14 Prozent und steht heute vor der Wahl zwischen dem Teufel und dem Beelzebub: Setzt er auf eine Neuauflage der Regierung Timoschenko, riskiert er, innenpolitische Konflikte zu verschärfen und die Position Timoschenkos vor der Präsidentschaftswahl 2010 weiter zu stärken. Setzt er im Sinne der Repräsentation der ostukrainischen Bevölkerung in der Regierung aber auf ein Bündnis mit Janukowitsch, verprellt er seine Stammwähler. Außerdem würde "Unsere Ukraine" damit in die Rolle des "Verräters" gedrängt, die nach den Wahlen 2006 den Sozialisten zukam. Sie hatten in letzter Minute mit der "Partei der Regionen" und den Kommunisten koaliert und somit eine Neuauflage der Orangenen Koalition verhindert. Beide Optionen bergen also die Gefahr, dass "Unsere Ukraine" und Präsident Juschtschenko in der politischen Bedeutungslosigkeit versinken.
Schon bei den Septemberwahlen schnitt Timoschenko selbst in den Janukowitsch-Hochburgen in der Ost- und Südukraine besser ab als "Unsere Ukraine". Und sogar in Juschtschenkos politischer Heimat, dem westukrainischen Distrikt Sakarpattja, hatte sein Bündnis nur noch einen Vorsprung von 2,2 Prozentpunkten vor dem Timoschenko-Bündnis.Politische Inhalte spielen in der Debatte inzwischen kaum noch eine Rolle. Die Diskussion über die künftige außen-, wirtschafts- oder sozialpolitische Ausrichtung des Landes hat dem reinen Kampf um Einflusssphären im neuen Parlament Platz gemacht.
Neben den aufreibenden Grabenkämpfen seit der Orangenen Revolution erklärt sich dies nicht zuletzt dadurch, dass eine beträchtliche Zahl der Parlamentssitze auch in der neuen "Werchowna Rada" wieder von Großindustriellen besetzt wird. Deren oberstes Ziel ist es nicht, Parteiprogramme oder Koalitionsvereinbarungen in die Tat umzusetzen, sondern ihre wirtschaftlichen Interessen zu wahren. Als Beispiele seien hier nur Tariel Wasadse, Großaktionär des Automobilwerks ZAZ in Saporishja, und Kostyantyn Shevaho, Eigentümer der Montanholding Ferrexpo genannt, die beide im Bündnis Julia Timoschenko aktiv sind, sowie Rinat Achmetow, der die Montanholding Metinvest besitzt und sich für die Partei der Regionen engagiert.
Angesichts dieser Gemengelage muss es schon als Erfolg für die ukrainische Demokratie gelten, wenn die "Werchowna Rada" am Freitag die neue Legislaturperiode eröffnet und sich als fähig erweist, eine Koalition zu bilden - sei es nun unter Führung des Bündnisses Julia Timoschenko oder der Partei der Regionen. Dies würde unter Beweis stellen, dass die politischen Parteien in der Ukraine willens sind, den Regeln der Demokratie zu folgen und eine Regierung zu bilden, die den Willen einer Mehrzahl der Wähler abbildet.
Als Beispiel könnte den ukrainischen Politikern das Nachbarland Polen dienen: Nach monatelanger politischer Krise beschloss das polnische Parlament am 7. September dieses Jahres, sich selbst aufzulösen und machte damit den Weg für vorgezogene Neuwahlen frei. Getragen wurde diese Entscheidung von der Einsicht sowohl der linksliberalen Opposition als auch der nationalkonservativen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit", dass die Regierung nach dem Bruch der Koalition mit der Bauernpartei "Selbstverteidigung" und der klerikalen "Liga der polnischen Familien" nicht mehr tragfähig und demokratisch legitimiert war.
Nach den Neuwahlen vom 21. Oktober räumte der polnische Regierungschef Jaroslaw Kaczyn'ski seine Wahlniederlage unverzüglich ein. Sein Zwillingsbruder, Staatspräsident Lech Kaczyn'ski, nahm der neuen Koalitionsregierung aus der nationalliberalen Bürgerplattform und der zentristischen Polnischen Volkspartei am 16. November den Amtseid ab. So hart die politischen Auseinandersetzungen und so groß der Machthunger und die Ambitionen der Kaczyn'ski-Brüder auch gewesen sein mögen - an der Geltung der demokratischen Grundprinzipien gab es für sie nicht den geringsten Zweifel.