Polen

Ein Buch wühlt Polen auf

Mit einer Studie über den polnischen Antisemitismus provoziert der Historiker Jan Gross eine heftige Debatte  Als Jan Tomasz Gross vergangene Woche sein umstrittenes Buch in Kielce präsentierte, hatte er nicht nur mit seinen eigenen, sondern auch mit den Emotionen seiner Zuhörer zu kämpfen. Kielce ist die polnische Stadt, deren unrühmliche Geschichte Gross unter anderem in seinem neuen Buch beschreibt. Genauer gesagt, geht es um den 4. Juli 1946. An diesem Tag fand in Kielce ein Pogrom an 40 Juden statt. Es war das schlimmste Massaker in einer ganzen Serie von Ausschreitungen und Morden gegen Juden, die heute, über 60 Jahre danach, ganz Polen so sehr beschäftigen, wie wohl noch nie zuvor. Grund ist das Buch "Angst. Antisemitismus in Polen nach dem Krieg. Geschichte des moralischen Niedergangs", dessen polnische Übersetzung der polnisch-amerikanische Historiker derzeit vorstellt. Gross hatte bereits mit seinem Buch über den Mord an Juden im polnischen Dorf Jedwabne eine heftige Debatte über Antisemitismus in Polen ausgelöst. Sein neues Buch wird sogar von der Staatsanwaltschaft in Krakau auf mögliche Verleumdung der polnischen Nation geprüft - eine Reihe führender Intellektueller, wie der frühere Außenminister Bronislaw Geremek, hat sich öffentlich und scharf gegen diese Untersuchung gewandt.  Zwischen viele qualifizierte Beiträge platzte bei der Buchvorstellung in Kielce ein etwa 65-jähriger Einwohner und beschuldigte Gross, ein General zu sein, der diese Debatte im Auftrag nordamerikanischer Juden vom Zaun breche. Gross entgegnete, er sei eher ein "Vampir der Historiographie", denn so habe ihn der Chef des polnischen Instituts des Nationalen Gedenkens, Janusz Kurtyka, genannt. Anna Bikont, Journalistin der Tageszeitung "Gazeta Wyborcza", warf ein, Gross spreche im Namen derjenigen Polen, die während des Krieges Juden unter Einsatz des eigenen Lebens geholfen hätten und sich dazu paradoxerweise später öffentlich nicht bekennen wollten. In etwa zwischen diesen entgegengesetzten Einschätzungen bewegt sich bereits seit zwei Wochen die große Debatte rund um Gross' ketzerisches Werk.  Die verschämten Retter Der Princeton-Professor bezog nach eigenen Angaben die Motivation für die Veröffentlichung von "Angst" aus einem anderen Buch einer polnischen Jüdin: Miriam Hochberg-Marianska hatte nach dem Krieg jüdische Kinder gesucht, die von polnischen Familien vor den Nazis versteckt worden waren. Sie hatte sich bestürzt darüber gezeigt, dass viele dieser Retter ihren Namen nicht veröffentlicht sehen wollten, sich gar schämten oder Angst hatten, von ihren Nachbarn für ihre Rettungstaten beschimpft oder verschmäht zu werden und weitere Nachteile zu erfahren. Polen war im Zweiten Weltkrieg das einzige Land, in dem auf aktive Hilfe für Juden die Todesstrafe stand.Inhaltlich kann man das 320 Seiten dicke Buch in zwei Teile aufteilen. Der erste besteht zumeist aus Quellenbelegen, etwa in Form von Zitaten, Erfahrungen und Briefen der Überlebenden. Den zweiten Teil bilden Gross' Interpretationen und Analysen. Dabei nimmt der Historiker, 1947 in Warschau geboren und 1968 in die USA emigriert, diese Unterscheidung selbst nicht vor. Beide Elemente - Zeitzeugenaussagen und Interpretation - werden gemischt. Ein ganzes Kapitel mit dem Titel "Polen verlassen" über die Besatzungszeit und die Auswirkungen auf Polen hat der Autor in der polnischen Fassung weggelassen - nach eigener Aussage deshalb, weil dieser Teil der Geschichte in Polen bereits gut bekannt sei.Zwar betont Gross immer wieder, dass die Polen nicht für den Holocaust verantwortlich sind, sie seien jedoch Zeugen gewesen und hätten zum Teil mitgemacht. "Die Polen leisteten in der überwiegenden Mehrzahl weder Hilfe noch zeigten sie Mitgefühl gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern und nahmen freilich häufig, auf verschiedene Weise, an dem Prozess der Vernichtung teil", schreibt er. Die Ursache für den polnischen Antisemitismus nach dem Krieg sieht Gross vor allem in der Angst vieler Polen, als Mittäter des Holocaust entlarvt, von den überlebenden heimkehrenden Juden der Schuld bezichtigt zu werden und Raubgut zurückgeben zu müssen. Der Autor befördert die Debatte mit zugespitzten Interviewaussagen, etwa, dass die Polen Hitler dankbar dafür gewesen wären, die Juden ermordet zu haben. Gross, dessen polnische Mutter seinen polnisch-jüdischen Vater im Krieg kennen gelernt, ihn versteckt und nach dem Krieg geheiratet hatte, analysiert die feindseligen Einstellungen und tödlichen Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung kurz nach dem Zweiten Weltkrieg als eindeutig antisemitisch begründet. Mythos "Judenkommune"Was Gross' Buch nicht nur in die polnischen Feuilletons, sondern sogar auf die ersten Seiten der wichtigen Pressepublikationen des Landes und in zahlreiche Radio- und Fernsehsendungen katapultiert, ist vor allem seine Entmystifizierung vieler Elemente, die im freien Polen bislang als heilig galten. So wirft er der mächtigen katholischen Kirche vor, im Umgang mit dem Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg komplett versagt - mehr noch, diesen bereits vorher massiv mitgeprägt zu haben. Nur ein Bischof, Teodor Kubina, habe laut Gross den Pogrom in Kielce unmissverständlich verurteilt und zugleich alle Vorurteile über angebliche Ritualmorde durch Juden an polnischen Kindern als Lüge bezeichnet. Der 60-jährige Historiker beschreibt aber auch die nicht unerhebliche Rolle der kommunistischen Partei, die vor allem durch untätige Unterlassung eine Atmosphäre der Rechtlosigkeit gegenüber Juden mitgeschaffen habe. Zugleich relativiert Gross die häufig von konservativen Historikern wiederholte Begründung für antijüdische Einstellungen, dass die so genannte "Zydokomuna" (dt.: "Judenkommune" oder "Judenkommunismus") Hauptursache für die feindseligen Gefühle gegenüber Juden gewesen sein soll. In Polen war es ein gängiges Vorurteil kurz nach dem Krieg, Juden seien die wahren Strippenzieher im neuen kommunistischen Staatsapparat gewesen. Tatsächlich waren viele Juden vor allem in höheren Positionen im Sicherheitsapparat tätig, was auch Gross einräumt. Essayistische ProvokationenDas Werk von Gross stellt nach Ansicht vieler polnischer Historiker und Kritiker keine stringente wissenschaftliche Arbeit dar. Gross selbst beschreibt sein Werk als "historisch-soziologischen Essay". Wohlwollende Beobachter räumen ihm vor diesem Hintergrund einen breiten Interpretationsspielraum ein, ohne allzu deutlich auf tatsächliche Unzulänglichkeiten und Ungenauigkeiten in dem Buch zu verweisen. Ein Beispiel einer solchen Ungenauigkeit ist etwa die Darstellung der Zahl der Opfer verschiedener Pogrome, die Gross unter Angaben einer Quelle bei bis zu 1500 vermutet. Tatsächlich belegt sind jedoch etwa 600 Todesopfer. Kritiker lehnen genau diese essayistische, interpretationsbeladene Darstellung vehement ab.  In einer sehr sachlichen Fernsehdiskussion zwischen Gross, der Publizistin und Gesellschaftsaktivistin Halina Bortnowska sowie dem polnischen Historiker Andrzej Paczkowski vertrat letzterer eine kontroverse These: Gross sei nicht in erster Linie durch die Leidenschaft getrieben worden, die Wissenschaftler aller Disziplinen bei Forschungen an den Tag legen müssten. Er sei vielmehr durch einen Missionsgeist erfüllt, nämlich den, dem polnischen Volk zu zeigen, dass es sich den schmutzigen Seiten seiner Geschichte stellen müsse. Von dieser These ausgehend, so Paczkowski, seien die deutlichen Verallgemeinerungen im Buch von Gross zu verstehen. Diese Einschätzung teilt auch der britische Historiker Norman Davies, der als ausgewiesener Kenner der polnischen Geschichte gilt.  Möglicherweise ist dieser "Missionsgeist" der Schlüssel, um die heftigen Debatten rund um die Publikation nachzuvollziehen. Denn tatsächlich bescheinigen weitere angesehene, nicht unbedingt als stramm konservativ einzustufende Fachleute Gross einige handwerkliche Mängel, schnelle Verallgemeinerungen und teilweise eine Entkontextualisierung - nicht zuletzt Bortnowska, die Gross' Beschreibungen als "Vereinfachung" beschreibt. Sie widerspricht Gross, indem sie sagt, dass die Frage der Bedeutung der Beziehungen zwischen Polen und Juden in der Nachkriegszeit für die polnische Bevölkerung eben nicht zentral war und es zahlreiche andere Konflikte auch mit Todesopfern gegeben habe.  Katholische Kirche am PrangerDie Historikerin Alina Cala vom Jüdischen Geschichtsinstitut in Warschau teilt hingegen Gross' Ansichten. Mit einem Unterschied: Sie geht in ihrer Kritik an der katholischen Kirche noch weiter. "Die katholische Kirche trägt eine größere Verantwortung für den Antisemitismus in Polen vor, während und nach dem Krieg, als es die polnischen Nationaldemokraten tun", sagt sie auf Anfrage. Die rechten Nationaldemokraten - in Polen unter dem Begriff "Endecja" bekannt - hätten vor dem Krieg  in ihrem Antisemitismus Teile der Mittelschicht in den Städten und die Intelligenz erreicht. Die Kirche aber habe die Massen der Gesellschaft angesprochen - und von Tausenden von Kirchenkanzeln aus und auch durch Schriften wie die Tageszeitung "Maly Dziennik" antisemitische Vorurteile massiv befördert. Cala stellt gleichzeitig klar, dass es ohne die deutsche Besatzung zu vielen Gewalttaten nicht gekommen wäre. Denn es sei, so die Wissenschaftlerin, durch den Krieg zu einer allgemeinen Demoralisierung und Devastation der polnischen Gesellschaft gekommen. Die von Gross thematisierten antisemitischen Ausschreitungen sind bereits in vielen anderen, auch polnischen Quellen und Publikationen dokumentiert worden - hier ist ein großer Unterschied zu sehen zu Gross' Recherchen über die Morde in Jedwabne, die er 2001 in seinem Buch "Nachbarn" thematisierte. Gross sei jedoch der erste, meint Cala, der sich traue, die katholische Kirche Polens mitverantwortlich zu machen. "Er hat als erster das Tabu gebrochen, dass man im Kontext mit dem Antisemitismus nicht schlecht über die Kirche spricht", sagt die Historikerin.

Der angesehene polnische Intellektuelle und Chefredakteur der "Gazeta Wyborcza", Adam Michnik, kritisiert die katholische Kirche dafür, dass sie ihr eigenes Verhalten nach dem Pogrom nicht revidiert. Er sagt, dass die Polen auch künftig so sein werden, wie die Kirche es lehren wird. "Wird sie Opportunismus lehren, werden auch wir opportunistisch sein", sagte Michnik. Der Erzbischof von Krakau, Stanislaw Dziwisz, kritisierte vor allem den Herausgeberverlag Znak, der als christlich orientiert gilt. "Eure Aufgabe ist die Verbreitung von Wahrheit, nicht das Wecken von Dämonen des Antisemitismus und Antipolonismus", schrieb Dziwisz in einem offenen Brief an den Znak-Verleger.     Was ist und was bleibt
 
Wäre die Sprache in Gross' Werk nicht, wie er selbst sagt, so "markig", würde sich heute wohl nur eine kleine Schicht von Intellektuellen und Wissenschaftlern über das Buch auslassen. So aber ruft das Buch sogar bei sonst Uninteressierten sowie jenen, die bislang ein noch unvollständiges Bild der polnischen Geschichte hatten, Wut, Unverständnis, Durcheinander, Ratlosigkeit, auch Angst hervor, nämlich davor, das jahrelang in Schule, Erziehung und Medien ein fast ausschließlich positives Bild der eigenen Geschichte vermittelt wurde. Es ruft aber auch Neugier auf die eigene Geschichte hervor, eine Neugier, auch die bislang marginalisierten Teile polnischer Geschichte zu entdecken und vor allem in ihrer Bedeutung zu entschlüsseln. Dabei geht es nicht darum, für Gross oder gegen ihn zu sein - sondern für oder aber gegen eine offene Debatte, in der sowohl Fehler des jüdischen Autors offengelegt werden können, als auch Trauer über das furchtbare Geschehene und die Suche nach den Gründen für das bisherige Nichtvorhandensein in der größeren öffentlichen Wahrnehmung ihren Platz finden. Michnik fordert vor allem, dass es in erster Linie ein polnisch-polnischer Dialog werden müsse. Festzuhalten bleibt: Gross hat sein Ziel schon jetzt erreicht. Die Diskussion, die er wollte, nämlich eine Konfrontation der Polen mit der polnisch-jüdischen Geschichte der Kriegszeit und der unmittelbaren Nachkriegszeit - sie findet statt. Und es ist wahrscheinlich erst der Beginn einer langwierigen Auseinandersetzung, vieler Auseinandersetzungen. Jan Tomasz Gross ist der Anstifter - obwohl sein Werk feststellbare Mängel aufweist. Nicht auszuschließen, dass in den nächsten Wochen und Monaten Publizisten in den Feuilletons und auch Menschen in privaten Kreisen interessante, persönliche Erlebnisse aus der damaligen Zeit von sich geben werden. Schon jetzt fragen viele aus der jüngeren Generation ihre Eltern und, wenn diese noch leben, Großeltern, wie es damals war, was man dachte über "die Juden", ob man gleichgültig war, mitfühlend oder gar hassend. Und möglicherweise kommt es auch zu einer Revision dessen, was Gross nach eigener Aussage überhaupt erst dazu bewegt hat, dieses Buch zu verfassen: Einer Revision der Angst vieler Polen, die Juden während der Okkupation meist unter Einsatz ihres eigenen Lebens retteten oder zumindest Sympathien mit ihnen hatten, dieses aber nach dem Krieg in jedem Fall für sich behalten wollten; einer Angst vor Denunziationen, Schmähungen durch Nachbarn oder auch Bezichtigungen, als "Judenknechte" ausgestoßen zu werden. Wenig überraschend wäre, wenn jetzt so manche Geschichte ans Tageslicht käme - und die man im Angesicht der Debatte nun anders diskutieren kann. 
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