Wahl als Bürgerpflicht
Putin hat die Russen in einer Fernsehansprache zur Wahl am Sonntag aufgerufen(n-ost) - Wladimir Putin hat die Russen am Freitag in einer Fernsehansprache aufgerufen, zur Wahl zu gehen. "Russlands Entwicklung nach vorn darf nicht unterbrochen werden, der Wandel zum Besseren muss fortgesetzt werden."In fünf Regionen Russland herrschen unterdessen schwierige Wetterbedingungen, besonders im Fernen Osten. Dies teilte Wladimir Tschurow, der Chef der Zentralen Wahlkommission, mit. Aber man tue alles für einen ordnungsgemäßen Wahlverlauf. Vier Kandidaten stehen am Sonntag zur Wahl. Neben Putins Kronprinz, dem Vizeministerpräsidenten und Gasprom-Aufsichtsratsvorsitzenden Dmitri Medwedew sind das der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, der Ultranationalist Wladimir Schirinowski und der Vorsitzende der kaum bekannten Demokratischen Partei, Andrej Bogdanow. Diese vom Kreml kontrollierte Partei bekam bei den Duma-Wahlen im Dezember nur 90.000 Stimmen. Liberale Kreml-Kritiker wie der ehemalige Ministerpräsident Michail Kassjanow wurden wegen angeblich gefälschter Unterstützer-Unterschriften nicht zur Wahl zugelassen. Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow gab wegen zahlreicher Behinderungen bereits im Vorfeld auf. Die OSZE verzichtet auf eine Beobachtermission, da sie sich mit der Zentralen Wahlkommission Russlands nicht auf die Modalitäten hatte einigen können. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates ist jedoch mit Beobachtern in Russland vertreten. Sieht man einmal von den Fernseh-Debatten ab, die frühmorgens und spätabends gezeigt wurden, gab es vor den kommenden Wahlen keinen richtigen Wahlkampf. An dem Schlagabtausch im Fernsehen beteiligten sich nur drei Kandidaten, Putins Kronprinz blieb ihnen fern. Die Fernseh-Debatten lösten keinerlei Diskussionen aus. Selbst als Wladimir Schirinowski einen Vertreter der Demokratischen Partei unter Einsatz seiner Fäuste aus dem Studio prügelte, gab es keinen Aufschrei in der Öffentlichkeit. Von dem Ultranationalisten ist man Derartiges gewohnt. Auch auf Wahlplakate haben die Kandidaten weitgehend verzichtet.Über Moskaus Straßen hängen nur die weißen Transparente mit dem Doppeladler, auf denen die Zentrale Wahlkommission zur Stimmabgabe aufruft. Nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungs-Instituts werden 80 Prozent der Wähler ihre Stimme für Putins Kronprinzen Medwedew abgeben. KP-Chef Sjuganow wird der Umfrage zufolge elf Prozent bekommen, Schirinowski neun Prozent und der Zählkandidat Bogdanow weniger als ein Prozent. Bei der Präsidentschaftswahl 2004 bekam Putin 71,3 Prozent der Stimmen.Vor dem Supermarkt "Siebter Kontinent" in der "Straße der Volks-Freiwilligen" stehen zwei alte Männer in abgewetzten Mänteln, den Rücken zum Wind, der Schneeflocken vor sich hertreibt. Beim Stichwort Wahlen fängt einer von ihnen, Oleg, sofort an zu schimpfen. "Gestern wurde ich angerufen. Ich soll zur Wahl gehen. Was für ein Recht haben die, mich zuhause anzurufen? Woher haben die meine Telefonnummer? Ich habe mich bei der Wohnungsverwaltung beschwert." Oleg sieht keinen Grund, wählen zu gehen. "Jedes Mal, wenn ich Einkaufen gehe, ist es wieder teurer geworden." Aleksandr, sein Bekannter, hat nur noch wenige Zähne im Mund. Er ist sich sicher, dass es früher besser war. "Bei Stalin sanken die Preise." Oleg hat sich inzwischen beruhigt. Ob Medwedew ein guter Kandidat ist? Das sei doch nur "ein Knabe". "Man hat ihn aus einer Ecke hervorgeholt, wie Putin", meint Oleg. Für den Posten könne doch nur kandidieren, wer bekannt ist und wer sich "für das Vaterland verdient gemacht hat." Oleg will den Kommunisten Sjuganow wählen. Er grinst und sagt, als Parteimitglied habe er einen Eid abgelegt. "Der gilt ewig."Tanja sieht die Zukunft positiv. Die Schulpsychologin und Mutter zweier Kinder ist schick angezogen. Sie trägt einen buschigen Pelz, eine rote Baseballmütze und rote Lederhandschuhe. Mit der Wahl, meint sie, sei zwar "schon alles entschieden", doch sie werde trotzdem hingehen. "Man muss seine Bürgerpflicht erfüllen." Wahrscheinlich werde sie Medwedew wählen, er sei jung und habe Perspektiven. "Ich kann nicht sagen, dass er mir besonders gefällt, aber ich hoffe, dass er irgendetwas macht." Was sie zweifeln lässt? "Man schiebt ihn zu sehr. Irgendjemand steht hinter seinem Rücken. Das ärgert mich."Was sich in den letzten acht Jahren eigentlich verbessert hat, kann Tanja nicht auf Anhieb sagen. Doch eins ist sicher: Sie ist stolz auf den Präsidenten. "Als Jelzin Präsident war, habe ich mich geschämt, dass wir so einen Leiter haben. Er hat getrunken, getanzt und kannte keine einzige Fremdsprache." Putin könne Englisch und Deutsch und sei auch äußerlich ein "sympathischer Mann, sehr diszipliniert". Dass Putin sich mit nacktem Oberkörper beim Angeln ablichten lässt, findet sie nicht schlimm. "Auch ein Präsident muss ein Privatleben haben. Von mir aus kann er nackt sein. Wenn das unserem Land nicht schadet." Zur Frage der Pressefreiheit will sich Tanja nicht äußern. "Jeder Mensch in jedem Land ist mit irgendetwas nicht zufrieden." Und der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja, hat sie der beunruhigt? Sie überlegt kurz und sagt dann mit ernstem Gesicht: "Wahrscheinlich ja." Eine Verschlechterung der Beziehungen zum Westen erwartet sie nicht. "Früher hat man uns mit dem Westen geängstigt. Aber heute gibt es das nicht mehr." Anton, ein hoch gewachsener Mann im glänzenden Ledermantel, kommt gleich zur Sache. "Natürlich" werde er wählen - und zwar "Medwedew". Der sei "jung und energisch." Früher habe er für den Kommunisten Sjuganow, später für Putin gestimmt. Dass Medwedew möglicherweise jüdischer Abstammung ist, stört Anton, der als Manager in einem Privat-Unternehmen arbeitet, nicht. Auch dass Medwedew nicht bei der Armee war, sondern nur eine Militär-Ausbildung an der Uni absolvierte, findet er nicht schlimm: "Ich war auch nicht bei der Armee." Medwedew habe Qualitäten als Führungsperson. Dank der von ihm geleiteten nationalen Projekte habe sich die Situation in den Moskauer Kindergärten deutlich verbessert. Das weiß Anton, der selbst keine Kinder hat, von einer Mitarbeiterin. Die Mahlzeiten seien jetzt ausgewogen und die Gruppen mit zwölf Kindern überschaubar. Anton verdient 50.000 Rubel (1.390 Euro) im Monat. Das ist in Moskau zurzeit ein normales Gehalt. "Ich bin zufrieden", meint der Manager. Das Einzige, das ihn ängstigt, ist, dass Russland sich möglicherweise isoliert. "Ich möchte, dass Russland in der Weltgemeinschaft mit all seinen Problemen aufgenommen und verstanden wird. Wir sind ein normales, zivilisiertes Land." Und wer ist Schuld an den Schwierigkeiten? "Russland hat sich gestärkt und das gefällt vielen im Westen nicht." Anton fühlt sich ausreichend informiert. 20 Prozent der Informationen bekommt er aus dem Fernsehen, 30 Prozent aus dem Internet, den Rest holt er sich aus den anspruchsvollen Wochenmagazinen und der liberalen Zeitung "Kommersant". Dass Russlands Schicksal nicht an der Wahlurne entschieden wird, ist für die Russen ziemlich klar. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87