Die strenge Hand von Väterchen Andrej
Drei Stunden lang beten im Stehen: Ostermesse in einer Moskauer Kirche(n-ost) – „Es ist egal, wie man Ostern feiert, Hauptsache, der Mensch kommt zu Gott.“ Priester Andrej, der ein weites schwarzes Gewand trägt und die langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hat, präsentiert sich als aufgeklärter Mensch. Seit über zehn Jahren leitet er die immer noch halb zerstörte Kirche in der Friedrich-Engels-Straße im Westen Moskaus. Bis zum Ersten Weltkrieg galt der Stadtteil nicht weit von der U-Bahn-Station Baumannskaja als „deutsches Viertel“. Auf Ausländer wirkt die russisch-orthodoxe Kirche streng und rückwärtsgewandt, doch „Väterchen Andrej“, wie ihn die Gläubigen nennen, hat schon etwas von der Welt gesehen und er ist stolz darauf. Ganz Italien habe er bereist. Die russische Kirche, sagt er, habe mit der katholischen viel gemein. Doch ein Kosmopolit ist Priester Andrej ganz sicher nicht. Selbstbewusst bestätigt er: „wir sind konservativ“. Und es scheint, als hätten die Russen an dieser Grundrichtung ihrer Kirche, die seit Jahrhunderten die alten Rituale beibehält, nichts auszusetzen. Von einer Erneuerungsbewegung ist nichts zu spüren.
Die antiken Glocken hat Priester Andrej auf Trödelmärkten gekauft.
FOTO: Ulrich HeydenIn diesen Tagen hat Väterchen Andrej, der nicht nur die Gottesdienste leitet, die Beichte abnimmt und die Restaurationsarbeiten kontrolliert, besonders viel zu tun. Am Wochenende feiert Russland das Osterfest. Es ist der wichtigste religiöse Feiertag im Land. Und weil die Kirche in Russland nach dem alten julianischen Kalender feiert, unterscheidet sich der russische Ostertermin vom deutschen stets um mindestens zwei Wochen. Dieses Jahr liegen die Osterfeiertage in Russland und Deutschland sogar vier Wochen auseinander.In der Nacht auf Sonntag wird in der kleinen Kirche, die zu Sowjetzeiten als Schießstand, Waffenfabrik und zuletzt als Lebensmittel-Lager diente und erst zur Hälfte wieder restauriert ist, die Ostermesse abgehalten. Zum Zeremoniell gehört auch das Weihen der Osterkuchen und der gefärbten Ostereier, welche die Gläubigen in Bastkörben von zuhause mitbringen. Um Mitternacht ziehen die Gläubigen, angeführt vom Priester und seinen Helfern in goldbestickten Gewändern, einmal betend um das Gotteshaus, die Kirchenfahnen voran. Am Ostersonntag dann wird ausgelassen gefeiert. Die Fastenzeit ist zuende. Die Tische sind voll geladen mit Kulitschi, den traditionellen Osterkuchen, mit Salaten und Fleischgerichten. Auch ein paar Gläschen Wodka gehören zum Fest. Die Gläubigen begrüßen sich mit den Worten „Christus ist auferstanden“, der Angesprochene antwortet: „Er ist wirklich auferstanden“. Jeder Gast der ins Haus kommt, nimmt ein hart gekochtes Osterei in die Hand und schlägt es gegen das Ei des Tischnachbarn. Wessen Ei bei diesem „heiligen Kuss“ ganz bleibt, dem steht ein langes und gesundes Leben bevor.
Künstler Jewgeni restauriert die vom Schimmel zerstörten Fresken.
FOTO: Ulrich HeydenZu den regelmäßigen Kirchgängern nicht nur zu Ostern gehört Nina Derabina. Die 86-Jährige trägt ein Kopftuch – Vorschrift für Frauen, die eine Kirche betreten. Nina hat auch zuhause Ikonen aufgestellt, aber sie kommt trotzdem jeden Tag in das Gotteshaus. „Besonders wenn ich traurig bin, gehe ich in die Kirche“, sagt sie mit brüchiger Stimme. Ihr Mann ist schon lange tot. Die alte Dame lebt mit den Enkeln zusammen. In der Kirche findet Nina ihr „inneres Gleichgewicht“, sagt sie. Derabina war schon zu Sowjetzeiten gläubig, genau wie Mutter und Großmutter. Ihre Kinder hat sie im Geheimen getauft. Den dreistündigen Ostergottesdienst mit den schönen Gesängen macht sie vom Anfang bis zum Ende mit. Weil es in der Kirche keine Bänke gibt, setzt sie sich auf einen der wenigen Stühle. Väterchen Andrej gehört zur Generation der Priester, die erst in der Perestroika-Zeit ausgebildet wurden. 1991 beendete er das dreijährige Priesterseminar und übernahm 1994 die Leitung des Gotteshauses in der Friedrich-Engels-Straße, das 1937 von den Bolschewiken geschlossen worden war. „Die Kirche war vollständig zerstört“, erinnert sich Andrej. Der alte Fußboden war weggeräumt und durch Betonplatten ersetzt worden. Massenweise habe er „riesige Ratten“ vergiften müssen, die sich in dem späteren Lebensmittellager eingenistet hatten. Nach der Schließung der Kirche im Jahre 1937 wurden ihre beiden Türme abgetragen. Einen Turm – oder besser gesagt eine Kirchturmzwiebel – hat Priester Andrej mit Spendengeldern wieder errichten lassen. Auch der große Glockenturm soll wieder aufgebaut werden. Noch ist die Stelle für den großen Turm im Dach mit einer großen Plastik-Plane abgedeckt. Vor der Revolution hatten Moskauer Kaufleute viel für die Kirche der „Märtyrerin Irina“ gespendet, erzählt der Priester. Doch die „Gottlosen“ – so nennt Andrej die Bolschewiken – hätten Ikonen, Gold, Diamanten und die große Kirchenglocke weggeschafft. „Aus der Kirchenglocke wurde ein Arbeiter-Denkmal“, sagt Andrej. Der Priester hat die sechs Tonnen schwere Kirchenglocke neu gießen lassen, für 1,7 Millionen Rubel, etwa 46.000 Euro. Zum Dank dafür, dass sie so viel Geld zusammentrugen, durften die Spender ihre Namen auf der Glocke verewigen.
Immer noch steht ein Bauzaun vor der Kirche im Westen Moskaus.
FOTO: Ulrich HeydenSolange der Kirchturm noch nicht fertig ist, hängt die große Glocke in einem stabilen Holzgerüst im Hof. Väterchen Andrej schlägt eigenhändig den Klöppel. Minutenlang klingt der mächtige, klare Ton über den Hof. Auch kleine, antike Glocken hängen in dem Holzgerüst. Sie gehören zu jedem russischen Glockenspiel. Priester Andrej hat sie auf Trödelmärkten selbst zusammengekauft. Die Kirche habe große Geldprobleme, so der Priester, vom Staat bekomme er überhaupt keine Unterstützung. Um die Kirchenkasse aufzubessern, hat er im Keller der Kirche eine kleine Produktionsanlage für Weihrauch aufgebaut. Die krümelig-gelblichen Kristalle werden in kleinen Schachteln für 27 Rubel, etwa 70 Cent, in der Kirche zusammen mit Kerzen verkauft. Ein Herr im feinen Anzug, eine modische Sonnenbrille im Haar, kommt alle zwei Wochen hierher, um Kerzen für seine verstorbenen Eltern und seine Kinder anzuzünden. Der Mann, der sich als Viktor vorstellt, ist Bauunternehmer. Seine Firma Interstroj Service sitzt schräg gegenüber der Kirche. „Wir haben einen Jahresumsatz von 100 Millionen Rubel, das sind 2,7 Millionen Euro“, erzählt Viktor stolz. Doch er spende auch, so hätte seine Firma im vergangenen Jahr die gesamten Stromkosten der Kirche übernommen. ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 30 83 11 87