Ukraine

„Demokratie ist für Angela Merkel nur ein Wort” / Interview mit dem Kiewer Schriftsteller Andrej Kurkow

Andrej Kurkow ist in Eile. Im Laufschritt hastet der 47-jährige Schriftsteller zum Treffpunkt vor der Kiewer Sophienkathedrale – immerhin Unesco-Weltkulturerbe und eines der Heiligtümer der ukrainischen Nationalkultur. Der bärtige Intellektuelle mit den vielen Lachfältchen trägt  profane Turnschuhe, Jeans und ein T-Shirt. Er ist erst in der Nacht aus Litauen zurückgekehrt, noch am Abend fliegt er weiter nach München. Ein viel gefragter Mann, dessen Wort in der Ukraine Gewicht hat. „Ich habe einen direkten Draht in die engsten Zirkel der Macht”, rühmt sich Kurkow gern augenzwinkernd. Wie zum Beweis trifft er beim Interview im Café „Jaroslaw” den ukrainischen Kulturminister Wasil Wowkun. Schnell handeln die beiden einige Termine aus. Doch dann ist Kurkow, der hervorragend deutsch spricht, wieder ganz bei der Sache – von Ironie keine Spur.

Wenn es um die Ukraine geht, versteht er keinen Spaß. Kurkow fixiert seinen Gesprächspartner mit durchdringendem Blick, in dem zu lesen ist: „Hören Sie gut zu, ich erkläre Ihnen jetzt die Lage.” Und die Lage ist ernst...

Ostpol: Lassen Sie uns über Ihre Arbeit und über Ihr Land sprechen...

Kurkow: Ich habe sehr wenig Zeit. Das Land ist wichtiger als meine Arbeit. Also lassen Sie uns nur über die Ukraine reden.

Verraten Sie wenigstens kurz, woran Sie gerade arbeiten!

Kurkow: Ich habe kürzlich einen Roman beendet, der gerade in Russland und der Ukraine erschienen ist. „Notschnoj molotschnik” ist der Titel, das könnte man vielleicht mit „Milchmann in der Nacht” übersetzen. Er soll demnächst auf Deutsch erscheinen. Und ein weiteres Buch habe ich fast fertig, einen Kurzroman ohne Politik. Nach „Die letzte Liebe des Präsidenten” wollte ich einmal etwas ohne Politik machen.

In der „letzten Liebe” haben Sie 2004 die Entwicklung der postsowjetischen Ukraine beschrieben und einen Blick in die Zukunft des Landes gewagt... 

Kurkow: Ja, und im „Milchmann” bin ich auch wieder nicht ohne Politik ausgekommen. Der Roman zeichnet ein allgemeines Bild der heutigen Ukraine, wobei das Land wichtiger ist als die Helden.

Dann ist also die Ukraine der Held des Buches?

Kurkow: Könnte man so sagen, ja.

Und wie präsentiert sich dieser Held? Sie haben vor zwei, drei Jahren – nach der orangenen Revolution von 2004 – gesagt, es gebe einen „gesunden Evolutionsprozess in der Ukraine”. Wie gesund ist das Land heute?

Kurkow: Es ist nicht mehr gesund. Die orangene Revolution war nötig. Dadurch hat sich die Geisteshaltung der Menschen grundlegend gewandelt. Die Mentalität ist jetzt ganz anders als beispielsweise in Russland. Offener, demokratischer. Aber leider sind die Unterschiede zwischen orangenen Revolutionären und blauen Konterrevolutionären verschwunden.

Wie das?

Kurkow: Nun, die Politiker wechseln die Farben, und heutzutage können sogar ganze Parteien die Farben wechseln. Gut möglich, dass die eigentlich prorussische Partei der Regionen von Oppositionschef Viktor Janukowitsch demnächst gegen die orangene, prowestliche Präsidentenpartei Unsere Ukraine die Fahne der Demokratie hochhält. Das ist ein Spiel, und der Einsatz ist die Macht.

Betrifft diese Wandlungsfähigkeit nur die Politiker oder auch die Bürger?

Kurkow: Viele einfache Leute verstehen diese Welt nicht mehr. Sie verstehen nur, dass irgendetwas schief gegangen ist. Früher haben die Ostukrainer der Partei der Regionen vertraut und die Westukrainer den orangenen Parteien von Präsident Viktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. 

Auf Deutsch erschienen von Kurkow im Diogenes-Verlag folgende Bücher:

Picknick auf dem Eis, Roman, 1999
Petrowitsch, Roman, 2002
Ein Freund des Verblichenen, Kurzroman, 2003
Pinguine frieren nicht, Roman, 2005
Die letzte Liebe des Präsidenten, Roman, 2007
Herbstfeuer, Erzählungen, 2007



Kurzbiografie


Andrej Jurjewitsch Kurkow ist am 23. April 1961 in Sankt Petersburg geboren. Seit seiner frühen Kindheit lebt der russisch schreibende Autor allerdings in Kiew, wo er sich auch heimisch fühlt. Kurkow studierte dort Sprachen – Englisch und Deutsch beherrscht er perfekt, zudem besitzt er unter anderem Kenntnisse  des Japanischen. Seinen Militärdienst leistete er als Gefängniswärter in der Schwarzmeerstadt Odessa ab. Später schrieb Kurkow Kinderbücher, arbeitete als Journalist, Kameramann und Drehbuchautor.

Für seinen ersten Roman organisierte der bekennende Optimist Anfang der 90er Jahre den Vertrieb selbst. Er nahm einen Kredit auf und kleisterte Kiew mit Plakaten zu, die noch vor der Veröffentlichung von dem „Bestseller” kündeten, „von dem alle reden”. Das half, das Buch wurde tatsächlich ein großer Erfolg. Inzwischen sind von Kurkow zahlreiche Prosawerke auch auf Deutsch erschienen. Im Mittelpunkt seiner Bücher steht das Leben in der postsowjetischen Ukraine, das er liebevoll-ironisch beschreibt, ohne die Schattenseiten jener chaotischen Jahre zu verschweigen. Während der orangenen Revolution in der Ukraine mischte Kurkow im Spätherbst 2004 an vorderster Front mit. Seither analysiert er für in- und ausländische Medien sowie in seinen Büchern immer wieder mit messerscharfem Verstand die aktuelle Lage seines Heimatlandes. Kurkow ist mit einer Engländerin verheiratet und hat zwei Kinder.


Und heute?

Kurkow: Heute gibt es eigentlich nur noch eine politische Figur, die sich treu geblieben ist: Timoschenko. Sie kämpft immer. Diese Energie finden die Leute gut. Aber Timoschenko lebt eben nur im Kampf. Ohne Feinde würde sie als Politikerin aufhören zu existieren.

Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Menschen nach den Enttäuschungen der vergangenen Jahre wieder von der Politik abwenden?

Kurkow: Die Enttäuschungen sind bereits verarbeitet. Die Menschen, die diese Revolution gemacht haben – und es war ein Aufstand des Volkes, nicht der Politiker! –, diese Menschen haben viel Positives aus der Revolution mitgenommen.

Betrifft das auch die junge Generation? Die Jungen sind ja oft besonders ungeduldig.

Kurkow: Die junge Generation betrachtet diese Grabenkämpfe im Niemandsland mit Zynismus. Aber das ist ein gesunder Zynismus, denn er zeugt von Idealismus. Nur wer an Ehrlichkeit glaubt, kann über unfähige Eliten derart vernichtend urteilen. Die Jugend wartet auf neue Politiker. Aber vielleicht werden die erst aus ihrer eigenen Generation kommen. Die Frage ist nur: Wann?

Und? Wann?

(Kurkow zuckt mit den Schultern)

Wie steht es um die Unterschiede zwischen der West- und der Ostukraine heute? Gibt es die oft beschworene Spaltung des Landes?

Kurkow: Nein! Das ist eine politisch inszenierte Spaltung. Es gibt bei uns keine Separatisten. Die Leute im Osten sind auch Ukrainer, und sie sagen das auch so.

Sie sind viel in Westeuropa unterwegs, leben zeitweise in London. Wie sehen Sie das Verhältnis zum Westen? Zuletzt haben sich die Westeuropäer ja eher dagegen gesperrt, die Ukraine schon bald stärker in die Strukturen von Nato und EU zu integrieren...

Kurkow: Die Ereignisse beim Nato-Gipfel im April in Bukarest haben natürlich vor allem mit Russlands Einfluss zu tun.

Dort haben Frankreich und Deutschland verhindert, dass die Ukraine in den Vorbereitungsplan für eine Nato-Mitgliedschaft aufgenommen wird.

Kurkow: Ja, und das zeigt, dass Demokratie auch für die Westeuropäer nur ein Wort ist. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel an Öl und Gas denkt, dann denkt sie nicht an Demokratie, dann denkt sie an Russland. Moskau kann als wichtiger Energieexporteur natürlich Bedingungen stellen. Und die Zukunft der Ukraine wird bei diesen Forderungen eine große Rolle spielen.

Andererseits ist ja eine Mehrheit der Ukrainer selbst gegen einen Nato-Beitritt!

Kurkow: Das war 2002 in Litauen genauso, da gab es auch 60 Prozent Neinsager. Und zwei Jahre später haben fast 70 Prozent dem Nato-Beitritt zugestimmt. Das bedeutet nur, dass es bislang in der Ukraine keine breite Debatte über das Thema gegeben hat. Aber das wird sich ändern.

Und der Widerstand der Westeuropäer – wie ist der zu überwinden?

Kurkow: Viel hängt von den USA ab, aber auch von jüngeren Nato-Mitgliedern wie den baltischen Staaten, Polen und anderen. In Bukarest haben sich US-Präsident Bush und die Neuen für eine Mitgliedschaft der Ukraine stark gemacht.


Das Land und die Lage

Wohl kein zweiter Staat trägt einen derart symbolhaften Namen: „U kraine” - „Am Rande”. In ihrer Geschichte war die Ukraine stets eine Grenzregion, in der Ost und West ineinander übergingen, sich wechselseitig befruchteten, oft aber auch aufeinander prallten. Zumeist beherrschten fremde Mächte das Gebiet zwischen Karpaten, Schwarzem Meer und Don: Polen, Litauer und Österreicher im Westen, Russen, Tataren und Türken im Osten und Süden.

Anerkannte eigene Staatlichkeit besitzt die Ukraine erst seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991. Politisch, sprachlich und konfessionell ist der flächenmäßig zweitgrößte Staat Europas mit seinen fast 47 Millionen Einwohnern noch immer ein Grenzland. In der demokratischen Revolution von 2004 errangen zwar jene orangenen Kräfte um Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko die Macht, die eine Annäherung an die Europäische Union und die Nato befürworten. Doch vor allem im Osten und Süden, wo die Bindungen an Russland besonders stark sind, regt sich Widerstand gegen die Westorientierung. Dort dominieren auch die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats und – als Alltagssprache – das Russische. Im Zentrum des Landes und im Westen, wo das Ukrainische vorherrscht, bekennen sich die meisten Gläubigen dagegen zur Unierten Kirche, die zwar orthodoxe Riten praktiziert, aber dem Papst unterstellt ist.


Und sind gescheitert!

Kurkow: Sie haben immerhin erreicht, dass ab Dezember neu geprüft wird. Wenn es unter dem neuen US-Präsidenten bei der Unterstützung aus Washington bleibt, hat Kiew gute Karten.

In ihrem Roman „Die letzte Liebe des Präsidenten”, den sie noch vor der orangenen Revolution 2004 geschrieben haben, haben Sie auf das Jahr 2015 voraus geschaut. Wo sehen Sie heute den Platz der Ukraine in zehn Jahren?

Kurkow: Wenn wir nach den Präsidentenwahlen 2009 ein dynamischeres Staatsoberhaupt bekommen, kann die Annäherung der Ukraine an den Westen einen neuen Schub bekommen. Ich sehe aber derzeit keine solche Persönlichkeit. Unsere heutigen Politiker sind keine Strategen, sie sind Kämpfer. Präsident, Regierung, Opposition – sie alle haben sich ineinander verkämpft. Und sie ringen um die Macht, nicht um die Zukunft des Landes.


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