BRUTALE VERTREIBUNG AUS MOSKAUER WOHNHEIMEN
Weil die Immobilienpreise in die Höhe klettern, werden die Menschen aus Moskauer Wohnheimen vertrieben(n-ost) – Oleg Deripaska hat es weit gebracht. Der Student für Betriebswirtschaft handelte in den 90er Jahren an der Moskauer Rohstoffbörse mit Aluminium. Heute ist er mit einem Vermögen von 28 Milliarden Dollar Russlands reichster Mann. Seine Altersgenossinnen Minisa Karamursina, Madina Kentscheschaowa und Rosa Chamsina haben in den letzten 20 Jahren auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Doch reich geworden sind die drei Arbeiterinnen, die in Deripaskas Textilfabrik „Trjochgornaja“ in Moskau schuften, nicht. Nun will Deripaska die Textilfabrik in das Moskauer Umland verlagern und das dazugehörige Wohnheim der Textilarbeiterinnen in der Samorenowa Straße, wo 60 Menschen leben, räumen und verkaufen. Damit würden Minisa, Madina, Rosa und ihre Kollegen in ein Wohnheim umgesiedelt, wo die sanitären Bedingungen noch schlechter sind. Im Wohnheim in der Samorenowa Straße gibt es auf jeder Etage ein Gemeinschaftsbad, in dem anderen müssen sich alle Bewohner ein Bad teilen. Die Frauen fürchten zudem, dass sie mit dem Umzug in das andere Wohnheim ihre Aufenthaltsgenehmigung für Moskau verlieren und zurück in die Provinz müssen. Für Moskauer Immobilien-Firmen indes ist das spitzgiebelige Haus in der Samorenowa Straße, nicht weit vom Sitz der russischen Regierung im Zentrum der Hauptstadt entfernt, ein Leckerbissen. Das im 19. Jahrhundert gebaute Haus soll modernisiert und dann als Wohn- oder Büroraum verkauft werden. Der Quadratmeterpreis im Zentrum liegt zurzeit bei 6.000 Dollar und mehr.
Das Wohnheim in der Samorenowa Straße
FOTO: Ulrich HeydenDie drei Frauen aus Baschkirien, Tscherkessien und Tatarstan wurden vor über 20 Jahren zur Arbeit in der Textilfabrik „Trjochgornaja“ angeworben. Auf ihre Produkte, ihre Kenntnisse und die internationalen Auszeichnungen, die die Fabrik schon bekommen hat, sind sie trotz ihres kümmerlichen Lohns stolz: „Wir produzieren hochwertigen Baumwollstoff“, erzählt eine der Frauen. „Auf einer Ausstellung in Dresden haben wir eine Goldmedaille bekommen.“ Doch noch etwas lockte sie damals nach Moskau: Bevor sie kamen, versprach man ihnen, dass sie nach zehn Jahren Arbeit in der „Trjochgornaja Manufaktura“ eine eigene Wohnung bekommen. Doch darauf warten die Arbeiterinnen seitdem vergeblich. Nach Schätzungen der Stadtverwaltung gibt es in Moskau 2.000 Wohnheime. Dort leben 800.000 Fabrikarbeiter, Studenten und Flüchtlinge. Seit die Immobilienpreise in der russischen Hauptstadt in unermessliche Höhe schießen, ist das Schicksal der Bewohner jedoch ungewiss. Die Immobilienfirmen suchen nach immer neuen Objekten. Und die Fabriken und Universitäten, denen die Wohnheime gehören, versuchen die Wohnheime jetzt auf dem freien Wohnungsmarkt abzustoßen, obwohl das gesetzlich verboten ist.Die Methoden, mit denen in Moskau Wohnheime geräumt werden, sind brutal. Kürzlich stürmten 100 Mitarbeiter der russischen Gefängnisverwaltung das Wohnheim der Fabrik „Smena“ in der Jasnyi Projesd-Straße, im Nordosten Moskaus. Dort wohnen nicht nur Fabrikarbeiter sondern auch Flüchtlinge aus Abchasien und Baku, die Anfang der 90er Jahre nach Moskau gekommen sind. Unter Einsatz von Tränengas wurden 30 Personen aus den Wohnungen getrieben. Der Vorsitzende der liberalen Jabloko-Partei, Sergej Mitrochin, erlebte den Einsatz mit und wurde selbst verletzt. Er sagte, dass alle Personen, die aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, eine Registrierung in Moskau hätten und seit mehreren Jahren in dem Wohnheim lebten. Niemand von ihnen lebt also illegal in Moskau. Nachdem die „Smena“-Fabrik pleite ging, wurde der Wohnraum aber in einer umstrittenen Gerichtsentscheidung der Moskauer Gefängnisverwaltung überschrieben. Auf die Wohnungen der 30 Ausgewiesenen erheben nun die Mitarbeiter der Moskauer Gefängnisverwaltung Anspruch. Die „Trjochgornaja Manufaktura“ fährt indes eine Nadelstich-Taktik, um zu ihrem Ziel – einem erfolgreich verkauften Wohnheim – zu gelangen. Im November vergangenen Jahres ließ die Direktion plötzlich morgens um zehn, als alle bei der Arbeit waren, Wasser und Strom abstellen. Abends zündeten die Frauen Kerzen an und legten Backsteine auf den Gasherd. Mit denen heizten sie ihre Zimmer. Sie suchten Kontakt zu anderen Wohnheimen, denen das gleiche Schicksal droht. Zusammen mit „DOM“, der „Bewegung der Wohnheime in Moskau und Umgebung“, organisierten sie auf einer nahe gelegenen Hauptverkehrsstraße eine Blockade mit Transparenten.Die Öffentlichkeit reagierte mit Verständnis. Die regionalen Fernsehsender berichteten wohlwollend. Als auch das nichts half, besetzten die Frauen das Büro des zuständigen Staatsanwaltes. Der Staatsanwalt ließ Wasser und Strom wieder anstellen. Den Strom bekommen die Bewohner des Hauses jetzt nicht mehr von der Fabrik, sondern aus einem Nachbarhaus, das dem Staat gehört. Dafür müssen die Bewohner des von Räumung bedrohten Hauses mit einem gefährlichen Provisorium leben. Das Starkstromkabel, welches sie mit Strom versorgt, läuft vom Verteilerkasten über die Stufen im Treppenhaus direkt in die Wohnungen. Manchmal haben die protestierenden Heimbewohner auch Erfolg. Im März wollte man die 500 Studenten des „Gnesin“-Musik-Instituts aus ihrem Wohnheim auf die Straße setzen. Die Studenten schlugen Krach. Sie veranstalteten ein Konzert voller Missklänge in der Innenstadt. Die Medien berichteten. Die Aussiedlung wurde bis zum Sommer ausgesetzt.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0