DER TRAUM VON EINER BRÜCKE
Die russische Insel Sachalin sucht den Anschluss an die globale Wirtschaft(n-ost) – Es war der 2. August 2007. Im Ort Newelsk an der Ostküste der Insel Sachalin im russischen Fernen Osten bebte für 22 Sekunden die Erde. Raissa Martyschenko kochte gerade Marmelade ein. Die 80-jährige kannte dieses Rütteln aus Taschkent, wo sie als junges Mädchen gelebt hatte. Deshalb blieb sie ruhig. „Ich hörte, wie alle die Treppe hinunterliefen. Es war 13.30 Uhr.“ Ein Mädchen im Haus ist verletzt worden, erinnert sich die alte Dame. In Newelsk starben zwei Menschen, 79 Häuser wurden beschädigt. 3.200 der 17.000 Einwohner wurden obdachlos. Die Kraft des Bebens war gewaltig. Vor der Stadt hob sich eine ganze Felsplatte aus dem Meer. Tatjana, eine Frau im mittleren Alter, die inzwischen mit ihrer Familie in einem neuen Fertighaus lebt, erinnert sich: „Es gab einen kleinen Tsunami. Es war ein komisches Geräusch. Alle haben geschrien. Die Welle kam vom Horizont und war 30 Zentimenter hoch.“ Tatjana hat mehrere Monate im Zelt gelebt, bevor sie die neue Wohnung bekam.
Ein Russe, Angehöriger der koreanischen Minderheit, beim Fischen.
FOTO: Ulrich HeydenRaissa sucht das Gespräch mit den Journalisten, die in einem schicken koreanischen Bus auf dem Marktplatz von Newelsk vorgefahren sind. Die Journalisten nehmen an einer Presse-Tour der russischen Eisenbahn teil. Irgendjemandem will die alte Dame ihre Sorgen über die ungenügende Entschädigung der Erdbebenopfer erzählen. Und um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, beginnt sie das Gespräch mit einer Lobrede auf den schönen roten Bus der Journalisten. So etwas habe sie in Newelsk noch nie gesehen. Das Beben vom 2. August hatte nicht nur Folgen für die Bewohner von Newelsk. Weil die Rettungsarbeiten nicht zügig anliefen, entließ Putin den Gouverneur von Sachalin, Iwan Malachow. Jetzt stehen rund um Newelsk ganze Reihen schmucker Fertighäuser für die Erdbebenopfer. Die Häuser sind leicht gebaut, vielleicht gerade richtig für ein Erdbebengebiet, wo man beim Hausbau die goldene Mitte halten muss, nicht zu schwer und nicht zu leicht.Raissa Martyschenko bekam für ihre zerstörte Wohnung eine Entschädigung von 1,3 Mio. Rubel (35.000 Euro). Dafür kaufte sie sich eine neue Wohnung, in der aber auch Risse sind. Dabei hat Raissa noch Glück gehabt. Viele andere Bewohner der Stadt warten immer noch auf die Bescheinigungen, mit denen sie die Entschädigung beantragen können.Etwa einmal im Monat bebt in Sachalin die Erde. 1995 war es besonders schlimm. Die Stadt Neftegorsk im Norden der Insel wurde vollständig zerstört. 2.000 der 3.000 Einwohner wurden unter den Trümmern ihrer Häuser begraben. Die Stadt wurde nicht wieder aufgebaut. Für den staatlichen Erdölkonzern „Rosneft“ waren die Folgen des Bebens brisant. In den „Rosneft“-Pipelines wurden 200 Lecks gezählt, berichtet Dmitri Lisitsyn von der „Ökologischen Wache Sachalin“. Die neue Öl- und Gaspipeline, die jetzt im Rahmen des „Sachalin II“-Projekts von Shell, Gasprom und den japanischen Konzernen Mitsubishi und Mitsui gebaut wird, stieß daher auf heftige Kritik der Umweltschützer. Auf die Forderung der Umweltschützer, die Pipeline überirdisch zu verlegen, um auch kleine Lecks sofort entdecken zu können, ging das Betreiber-Unternehmen „Sakhalin Energy“ nicht ein. Wie der Manager der neuen Flüssig-Gas-Fabrik von „Sakhalin Energy“, der Holländer Bert Christoffels erklärt, habe man die Pipeline extra in einem Sandbett gelagert. So könnten sich die Rohre bei einem Beben bewegen.
Bevor die große Fang-Saison beginnt, nutzen Hobby-Fischer die Piers.
FOTO: Ulrich HeydenDie Natur auf und um Sachalin bringt Gefahren, aber auch Segen. Die Ostküste von Sachalin ist ein Paradies für Fischer. Wer die schmale Asphaltstraße an der Ostküste Sachalins auf der Höhe von Juschno-Sachalinsk abfährt, sieht, dass dort mit Fischen und Krabben viel Geld verdient wird. Alle paar Kilometer stößt man auf eine Fischfabrik, verborgen hinter Betonmauern und Stacheldraht. Hinter dem Tor bellen ein paar Hunde. An einer Pier, aus Beton, Holzbohlen und Kiesaufschüttungen, die wie eine Improvisation aus Kriegszeiten wirkt, legen im Juli und August, wenn mit großen Netzen der Lachs gefangen wird, viele Schiffe an. Während der Jelzin-Zeit hatten die 600.000 Insulaner einiges auszustehen. Sachalin wurde durch die Schließung von kleinen Werften, Kolchosen und Bergwerken zum Armenhaus. Fabrikdirektoren setzten sich auf das Festland ab. Wer übrig blieb, versuchte sich mit illegalem Krabbenfang oder dem Handel mit japanischen Gebrauchtwagen. An der Westküste von Sachalin wurde alles leer gefischt. Jetzt geht es an der Ostküste weiter. Das Tauchen nach wertvollem Muschelfleisch, großen Kamtschatka-Krabben und „blauen“ Krabben, die bis zu acht Kilogramm schwer werden, geschieht meist illegal, erzählt Irina. Die Fischhändlerin hat auf dem Markt in der Gebiets-Hauptstadt Juschno-Sachalinsk einen eigenen Stand. Es gibt zwar Fang-Quoten, aber an die halten sich nur Wenige. „Wir ernähren ganz Japan mit unseren Krabben und Fischen“, scherzt Irina. Polizei und Justiz drücken beide Augen zu. Offenbar profitieren auch sie von diesem einträglichen Geschäft.
Krabbenverkäuferinnen auf Sachalin
FOTO: Ulrich HeydenDie Fisch-Vitrine von Irina quillt über vor Köstlichkeiten. Es gibt Muschelfleisch so groß wie Schweine-Koteletts, geräucherten Lachs, Forellen, Schmerlen, Galez, Terpuk und fettigen Steinbutt. Die Preise sind für russische Verhältnisse happig. Die Kamtschatka-Krabbe kostet pro Kilo 1.100 Rubel (30 Euro). Der Bedarf in Japan ist riesig. „Die Japaner haben nur noch wenig Krabben“, behauptet Irina. Die Stadt Wakkanai auf der japanischen Insel Hokkaido habe ihren Aufschwung allein dem illegalen Fisch- und Krabbenhandel mit Russland zu verdanken. 1890 besuchte der Schriftsteller Anton Tschechow Sachalin und schrieb einen Aufsehen erregenden Bericht über die schweren Lebensbedingungen der Verbannten, die damals auf der Insel lebten. Im Tschechow-Museum von Juschno-Sachalinsk ist das Leben der Verbannten mit Photos dokumentiert. Man sieht bärtige Männer in einfachen Kitteln, die man der Einfachheit halber an ihre Schubkarren angekettet hatte.Die im Öl- und Gas-Sektor Beschäftigten haben es heute besser. Ein Lastwagen-Fahrer, der Baumaterial zur Fabrik fährt, verdient im Monat immerhin 15.000 Rubel (400 Euro). Zusammen mit dem Einkommen der Ehefrau reicht das gerade, um eine Familie zu ernähren. Viel besser geht es den Managern und hoch bezahlten Spezialisten aus aller Welt, die am „Sachalin-II“-Projekt arbeiten. Für sie wurde südlich der Stadt Juschno-Sachalinsk ein schickes Dörfchen mit dem Namen Sima (Winter) gebaut. Hier gibt es schöne einstöckige Häuschen, große Rasenflächen, frische Luft und eine große Sporthalle. Öl und Gas haben Geld nach Juschno-Sachalinsk gebracht. Tagsüber schieben sich dicht an dicht rechtsgesteuerte japanische Jeeps über das schachbrettartige Straßen-Netz der 1882 gegründeten Stadt. Russische Autos sind kaum zu sehen. Für Ausländer und gutbetuchte Russen gibt es viele Orte zum Erholen. Nicht weit von Juschno-Sachalinsk entsteht ein modernes Ski-Zentrum mit zwei Sprung-Schanzen. Wer japanischen Stil mag, kann im schicken „Hotel Santa“ absteigen. Eine Übernachtung dort ist für 6.000 Rubel (160 Euro) zu haben. Im Nachtclub „Tschastje“ (Glück) kostet der Eintritt 1.000 Rubel (27 Euro). An der langen Bar warten ein paar Ausländer auf Entspannung. Bis Mitternacht füllt sich der Laden mit Koreanerinnen, dezent geschminkt und in feinen Klamotten. Es sind die Nachkommen der Zwangsarbeiter, die die Japaner auf die Insel brachten. Der Südteil von Sachalin gehörte von 1905 bis 1945 zu Japan und hieß „Karafuto“. Die Japaner taten einiges für die Infrastruktur im Südteil der Insel. Mit Hilfe koreanischer Zwangsarbeiter wurden Eisenbahnlinien, Kohlebergwerke und Papierfabriken gebaut. Bis auf etwa 200 Japaner haben 1945 alle die Insel verlassen. Doch die Koreaner sind geblieben. Fünf Prozent der Einwohner auf Sachalin sind Koreaner. Sie haben fast alle russische Vornamen. Früher schlugen sich Russen und Koreaner auf den Straßen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute werde die Koreanische Kultur vernachlässigt, erzählt Sergej, ein junger Koreaner. Koreanisch und Japanisch wird heute nur noch an wenigen Schulen unterrichtet.
Hobby-Historiker Mischa sammelt Andenken an die Zeit der Japaner.
FOTO: Ulrich HeydenMoskau beginnt jetzt, seine fernöstliche Insel wieder zu entdecken. Die russische Staatsbahn RZD lässt die japanische Eisenbahn-Schmalspur im Süden der Insel durch eine russische Breitspur-Trasse ersetzen. Sachalin soll Kettenglied in einem Transportkorridor zwischen Japan und Europa werden. Der Gouverneur der Insel, Aleksandr Choroschawin, will 2015 mit Unterstützung privater Investoren mit dem Bau einer Brücke zum russischen Festland beginnen. Die Bevölkerung hofft, dass die Waren auf der Insel dann billiger werden. Ein Tunnel-Projekt Anfang der 1950er Jahre blieb in den Anfängen stecken. Gulag-Häftlinge begannen von der Insel und vom Festland aus einen Tunnel zu buddeln. Mit dem Tod des Diktators wurde 1953 auch das Tunnelprojekt begraben. Auch über eine Verbindung zwischen Sachalin und der japanischen Insel Hokkaido denkt man in der Gebietshauptstadt Juschno-Sachalinsk nach. Zunächst müsse man aber den Handel mit Schiffen verstärken, sagt Urata Tetsuya, von der Hokkaido-Vertretung in Juschno-Sachalinsk, dann könne man weiter überlegen. Im Übrigen hätten viele Menschen auf der Insel Hokkaido immer noch Angst vor den Russen, erzählt der Hokkaido-Vertreter und lächelt dabei sehr freundlich.ENDENachdruck und Weiterverwertung dieses Artikels sind kostenpflichtig. Informationen im n-ost-Büro unter (030) 259 32 83 - 0