Russland

Nachruf auf Anatoli Pristawkin

Der Schriftsteller Anatoli Pristawkin starb Freitag früh im Alter von 76 Jahren in einem Krankenhaus. Noch einmal zeigte man Bilder vom Wirken Pristawkins, der sich seit 1992 für die Begnadigung von Strafgefangenen und die Abschaffung der Todesstrafe eingesetzt hatte. Der 1931 geborene Pristawkin wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Er hatte eine glückliche Kindheit, aber eine unruhige Jugend. Seine Eltern verlor er im Krieg. 1944 evakuierte man ihn ein Kinderheim nach Tschetschenien, wo er mit Kindern verschiedener Nationalitäten zusammenkam.

Er erlebte, wie Tschetschenen auf Befehl Stalins in Waggons nach Sibirien deportiert wurden. Gegenüber dem Bergvolk verband ihn seitdem eine große Achtung. Der „Internationalismus“, erklärte der Schriftsteller 2004 in einem Interview, sei „eine Einstellung bei Kindern“.1945 türmte der kleine Anatoli aus dem Heim und lebte von nun an auf der Straße. „Wir waren Kinder des Krieges“, erinnerte er sich, „wir haben alles verstanden und hatten vor nichts Angst.“ Später schlug er sich als Arbeiter in einer Konservenfabrik und Hilfsarbeiter auf einem Flughafen durch. Seine Erinnerungen an die Zeit im Kaukasus beschrieb er in seinem 1987 erschienen Buch „Schlief ein goldenes Wölkchen“. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt und erreichte eine Gesamtauflage von 4,5 Millionen Exemplaren.

Das Buch enthielt Wahrheiten über die Sowjetzeit, über die man früher nicht öffentlich sprach. Waleri Borschjow, der mit Pristawkin in der 1992 gebildeten Begnadigungskommission für Strafgefangene tätig war, erinnerte sich heute, die Erzählung sei wie eine „Explosion“ gewesen. „Es war ein Umdenken des Geschehenen.“ Es sei das Verdienst von Pristawkin gewesen, dass der russische Präsident Boris Jelzin 1996 ein Moratorium über die Todesstrafe verhängte. „Man muss Mitleid haben“, erklärte Pristawkin in einem Interview, „weil Dir selbst Menschen aus der Patsche geholfen haben.“ Die Schlüssel-Szene im Leben des Schriftstellers ereignete in Kriegszeiten vor einem Speise-Saal in Tscheljabinsk. Dort stand eine riesige Ansammlung von hungrigen Flüchtlingen, die aber – auf das Bitten des Erziehers – die hungrigen Kinder zum Essen durchließen.Der Verstorbene sah sich als Anwalt der Strafgefangenen, die noch immer unter menschenunwürdigen Bedingungen zu 30 Personen in einer Zelle zusammengepfercht werden.

Von 1992 bis 2001 leitete er die Begnadigungskommission, der bekannte Demokraten, Dissidenten und Künstler wie der Liedermacher Bulat Okudschawa angehörten. Die Kommission erreichte während ihres zehnjährigen Bestehens, dass 12.856 zum Tode verurteilte Menschen lebenslange Haftstrafen bekamen. 2001, nachdem Putin Präsident geworden war, wurde die Kommission aufgelöst. Der Schrifsteller deutete das als Rückfall in alte Zeiten. Sein Credo, „Barmherzigkeit ist keine juristische Angelegenheit“, war während des Zweiten Tschetschenien-Krieges nicht populär. Der Ruf nach der Wiedereinführung der Todesstrafe wurde immer wieder laut.Unter Putin wurde Pristawkin zum Berater für Begnadigungsfragen. Das Amt hatte jedoch mehr formalen Charakter.

In seinem Beileidstelegramm an die Familie ehrte Wladimir Putin den Verstorbenen als einen „echten Staatsbürger und Patrioten“, der sich sein ganzes Leben lang seine „humanistischen Ideale“ bewahrt habe.Pristawkin wurde zuerst in der DDR verlegt, Ende der 80er Jahre auch in Westdeutschland. Der deutsche Schriftsteller Lew Kopelew stellte Pristawkin bei westdeutschen Verlagen vor. 1952 beendete der Waise eine Ausbildung am Moskauer Institut für Luftfahrt, 1959 schloss er ein Studium am Moskauer Maxim-Gorki-Literatur-Institut ab. Seine Leben brachte ihn in die entlegensten Ecken Russlands. Im sibirischen Bratsk arbeitete er als Betonarbeiter auf einer Baustelle für ein Wasserkraftwerk. Von dort schrieb er auch für die „Literaturnaja Gaseta“.Pristawkin war Mitglied des russischen PEN-Zentrums.

Für seine Verdienste für die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Russland und Deutschland wurde Pristawkin 2002 mit dem Aleksander-Men-Preis ausgezeichnet.


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